Nicht nur ein expressionistischer Lyriker

Über die neue Ernst Blass-Werkausgabe und ihren Editor Thomas B. Schumann

Von Michael AnselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ansel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Anthologien zur Lyrik des Expressionismus taucht er bisweilen als Verfasser der Gedichte „Abendstimmung“ und „Der Nervenschwache“ auf. Ansonsten ist Ernst Blass (1890-1939) als Autor kaum bekannt, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass es, von einer von Thomas B. Schumann 1980 besorgten Ausgabe seiner vier Gedichtebände abgesehen, bislang keine auch nur halbwegs repräsentative Edition seiner Werke gab. Dieser unbefriedigende Zustand hat sich nun mit der ebenfalls von Schumann vorgelegten dreibändigen Leseausgabe geändert, die sämtliche Gedichte und Erzählungen sowie ausgewählte Feuilletons und literarische Aufsätze aus allen Schaffensphasen von Blass wieder zugänglich macht. Die broschierten Bände sind ansprechend gestaltet: Sie präsentieren zeitgenössische Holzschnitte von Hans Thuar, Josef Eberz und Conrad Felixmüller als Umschlagsillustrationen und enthalten drei Frontispiz-Fotografien von Ernst Blass aus den Jahren 1915, 1928 und 1939. Der Text ist sorgfältig und großzügig gesetzt worden – allein im Gedichteband hätten die Zeileneinrückungen bei überlangen Versen etwas größer ausfallen können. Man nimmt die Bände also gern zur Hand und glaubt einen bislang vernachlässigten Autor offenbar in guten Händen zu wissen.

Diese Freude wird allerdings getrübt, wenn man sich näher mit dem Inhalt der Ausgabe beschäftigt. Drei grundsätzliche Mängel sind zu beklagen. Erstens kann man von einer solchen Auswahledition eine Bibliografie sämtlicher Werke und Schriften von Blass erwarten. Deren Fehlen ist in doppelter Hinsicht ärgerlich, weil dieses Defizit schon 1980 von Hans Bender in seiner Besprechung der bereits erwähnten Gedichteausgabe moniert wurde und weil Angela Reinthal ihrer materialreichen Blass-Monografie einen sehr umfangreichen bibliografischen Anhang beigegeben hat. Zweitens vermisst man insbesondere bei den Feuilletons und Aufsätzen einen Kommentarteil mit Wort- und Sacherläuterungen. Das gilt gerade dann, wenn „eine Leseausgabe für ein heutiges literarisch interessiertes Publikum und nicht […] eine wissenschaftliche Ausgabe für Germanisten“ beabsichtigt war. Meint der Herausgeber wirklich, dass ein solches Publikum das Horaz-Motto der „Gedichte von Trennung und Licht“ übersetzen kann, den Fotografen und Kameramann Helmar Lerski und seinen porträtierten Fotoband kennt und mit den unter dem Sammeltitel „Literatur“ besprochenen Werken von Martin Beradt, Albert Ehrenstein und Robert Musil viel anzufangen weiß?

Drittens sind die Auswahlkriterien und der Zuschnitt der Edition nicht ganz nachvollziehbar. Schumann kündigt deren „Fortsetzung mit einem Brief-Band, einem Dokumenten- und Biografie-Band sowie einem Auswahl-Band der Tanz- und Filmkritiken“ an. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, die Ausgabe zu straffen und das Angekündigte gleich aufzunehmen, zumal Band 3 vergleichsweise schmal ausgefallen ist? Je nach Umfang des erneut abdruckwürdigen Materials hätte man ja einen vierten Band zusammenstellen können. Nach einer Durchsicht der vorgelegten, die Prosa enthaltenden Bände schleicht sich jedenfalls der Verdacht ein, hier solle ein Autor über Gebühr aufgebläht werden. Die Prosa war nicht Blass’ besondere Stärke – auf Manches wiederum Gebotene hätte man gut verzichten können. Man darf sich also fragen, ob Schumann seinem Autor mit den in Aussicht gestellten Fortsetzungsbänden einen Gefallen tut. 1980 hatte er noch in der Zweitauflage ausgerechnet von Blass’ „Wesen der Tanzkunst“ eine „gewisse Ironie“ erblickt, da dieses Werk als „eher untypisches Nebenprodukt seiner journalistischen Arbeit als Tanzkritiker“ zu betrachten sei. Wenn er nun eine Publikation dieser und weiterer „Nebenprodukte“ plant. so lässt dies Zweifel an ihrer Notwendigkeit aufkommen, die nicht zuletzt in Anbetracht der anvisierten Zielgruppe der Ausgabe nicht kleiner werden: Wer aus dem interessierten Laienpublikum wird denn solche, dem journalistischen Brotberuf von Blass geschuldete Gelegenheitsarbeiten lesen wollen?

Nun kann man aber zu Recht einwenden, dass es in Anbetracht der nicht absehbaren Qualität des von Schumann in jahrzehntelanger Arbeit gesammelten Text- und Quellenmaterials abzuwarten bleibt, ob die angeratene Verschlankung der Blass-Ausgabe sinnvoll gewesen wäre. Nicht diskutabel ist jedoch die Art, wie Schumann wissenschaftliche Konkurrenz zu diskreditieren sucht. Der dabei verwendete Tonfall soll unkommentiert bleiben, da allein schon die gegen die kritisierte Arbeit erhobenen sachlichen Vorwürfe, sie beruhe auf eigenen Vorarbeiten, weise bibliografische Fehler auf und biete nichts Neues, befremdlich wirken. Sie nehmen sich merkwürdig aus im Mund eines Urhebers, der uns sein bereits dem Gedichteband von 1980 beigegebenes, zwischenzeitlich mehrfach nachgedrucktes Nachwort im ersten Band der Ausgabe in nahezu unveränderter Form – die eben zitierte Passage über die Marginalität von Blass’ Tanzkritiken fehlt jetzt natürlich – erneut anbietet, seit 1983 „die erste umfassende Monographie zu Leben und Werk“ von Blass ankündigt und mit den eigenen bibliografischen Angaben hinter den Ansprüchen an eine Leseausgabe deutlich zurückbleibt. Jeder kundige Leser wird die mit nicht nachvollziehbarem Furor abgekanzelte Arbeit selbst beurteilen und feststellen können, dass sie zumindest so lange unverzichtbar bleibt, bis Schumann seine versprochenen Blass-Projekte realisiert hat: „Hier ist Rhodos, komm’ und zeige / Deine Kunst, hier wird getanzt! [...]“ (Heinrich Heine).

Ob diese Ausgabe Blass ein größeres Publikum beschert? Das wäre zu wünschen, obwohl sie gewiss nur eine breitere nachhaltige Rezeption innerhalb der Literaturwissenschaft auslösen wird. Sie bietet einen Querschnitt durch alle Schaffensphasen eines Dichters, der bislang ausschließlich als expressionistischer Lyriker wahrgenommen wurde. Daran kann die Edition vermutlich insofern nichts ändern, als „Die Straßen komme ich entlang geweht“ als wichtigstes Werk von Blass Bestätigung finden wird. Sie schafft jedoch erstmalig die Basis für eine begründbare Hochschätzung des ersten Gedichtebandes dieses Autors. Außerdem ermöglicht sie aus einem autorspezifischen Blickwinkel aufschlussreiche Einblicke in die literarischen, gesellschaftsgeschichtlichen und politischen Entwicklungen im Deutschen Reich von der Jahrhundertwende bis zu den späten 1930er Jahren. Blass’ Werke seit seiner Hinwendung zur Neuklassik und seiner späteren Öffnung gegenüber der Neuen Sachlichkeit verleihen diesen beiden literaturgeschichtlichen Phasen zusätzliche Konturen. Und sein Schicksal als jüdischer Intellektueller zwischen beruflicher Bindung, freier Schriftstellerexistenz und politischer Verfolgung verdient nicht nur wegen seines schweren Augenleidens seit der Mitte der 1920er-Jahre immer noch Beachtung und Anerkennung. Es ist Thomas B. Schumann zu danken, mit seiner Ausgabe erstmalig die Voraussetzungen für eine anspruchsvolle Blass-Rezeption geschaffen zu haben.

Titelbild

Ernst Blass: Werkausgabe in drei Bänden. Band 1: Sämtliche Gedichte.
Herausgegeben von Thomas B. Schumann.
Edition Memoria, Hürth 2009.
256 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783930353262

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Ernst Blass: Werkausgabe in drei Bänden. Band 2: Erzählungen und Feuilletons. Ferien vom Berliner Pflaster.
Edition Memoria, Hürth 2009.
232 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783930353279

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Ernst Blass: Werkausgabe in drei Bänden. Band 3: Literarische Aufsätze. Der Leser sieht eine neue Welt.
Edition Memoria, Hürth 2009.
168 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783930353286

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