„Wir waren Touristen des Seelischen“

Christopher Isherwoods Jugenderinnerungen „Löwen und Schatten“, erstmals in deutscher Übersetzung

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1920er-Jahre umgibt immer noch die Aura der erotischen Freizügigkeit, der ungehemmten Lebenslust und des unbeschwerten Lebensgefühls. Christopher Isherwoods Jugenderinnerungen, die vom Besuch der Public School und dem abgebrochenen Studium in Cambridge bis zur Übersiedlung nach Berlin 1929 handeln, fallen genau in das Jahrzehnt der „Roaring Twenties“ – und doch ist dies kein Buch, in dem es viel um Erotik, Sex und ausschweifende Gelage geht. Zumindest sind das nicht die wichtigsten Erinnerungsmomente von Isherwood.

Der Text entstand auf dem Höhepunkt von Isherwoods literarischem Schaffen und Ruhm: nach „Mister Norris changes trains“ (1935) und vor „Goodbye to Berlin“ (1939) und „Prater Violet“ (1945). Die letzten beiden Romane waren ursprünglich mit den nun auch in deutscher Übersetzung vorliegenden Jugenderinnerungen als autobiografisches Großprojekt geplant, das den Arbeitstitel „Scenes from an Education in the Twenties“ trug. Isherwood erzählt zwar chronologisch, stellt aber eben immer nur Szenen, prägende Lehrer, Freunde und Gefährten heraus, die für das erlebende Ich von damals noch nicht die herausragende Bedeutung hatten, wie es dem erinnernden Ich erscheint. Denn freilich schreibt Isherwood seine Jugenderinnerungen auch auf der Folie des Adoleszenzromans und der Dichterautobiografie.

In den ersten Kapiteln stellt Isherwood die frühe Förderung durch seinen Lehrer an der Public School und, in Cambridge, die enge Freundschaft und den Austausch mit dem später ebenfalls als Schriftsteller bekannten Edward Upward dar – der im Buch Chalmers heißt. In der Auseinandersetzung mit Chalmers wird sich Isherwood auch zum ersten Mal seiner sozialen Herkunft bewusst, mit der er sich in späteren Jahren immer kritischer auseinandersetzen wird: „Chalmers war von Natur aus ein Anarchist, ein geborener romantischer Revolutionär; ich war ein großbürgerlicher Puritaner, vorsichtig, ein wenig geizig, nicht ohne Standesbewußtsein.“

Was auch immer Isherwood erlebt hat, er beschreibt es als Schriftsteller und durch die Augen eines Schriftstellers. Orte und Erlebnisse werden nicht einfach aufgezeichnet, sondern als sublimierte künstlerische Erfahrungen wiedergegeben. Cambridge erleben Chalmers und Isherwood als „Touristen des Seelischen, die eine metaphysische Universitätsstadt erkunden“. Nicht zuletzt aufgrund des literarischen Erbes der gerade in England verbreiteten College- und Universitätsromane kann man auch in Isherwoods Erinnerungen den diesen Städten immer noch anhaftenden Zauber der Exklusivität mit ihrem Rhythmus aus Studieren, gemeinsamen Leben, Wohnen und Unternehmungen nachvollziehen. Auch das nur selten besuchte London erlebt Isherwood als Netz literarischer Assoziationen.

Meisterhaft versteht er es, Stimmungen und ein bestimmtes – ja: englisches – Lebensgefühl einzufangen, wie man es sonst nur von seinem zwei Jahre jüngeren Schriftstellerkollegen Evelyn Waugh kennt: Die Ausflüge mit Chalmers nach Canvey Island oder nach Southend, die Beschreibung der „superben Provinzaura“ im Cornwall’schen Penzance, wo „käseweiße Bankangestellte friedlich nach dem Tee ihre Pfeife auf der Straße rauchen“ – all das scheint mit einem ironisch-sarkastischen Unterton gegen die britische Lebensweise geschrieben zu sein, der sich Isherwood aber nicht entziehen konnte.

Wie früh sich schon die spätere Depression in den scheinbar unbeschwerten Goldenen Zwanzigern abzeichnete, zeigt der Generalstreik 1926 in England. Für Isherwood wurde er zum Wendepunkt in seiner bis dahin im Grunde unpolitischen Biografie und markiert den Beginn seiner Abrechnung mit der eigenen Herkunft, die er abschätzig „Schickokratie“ nennt: „Zum ersten Mal war mir klar, daß ich meine eigene Klasse verabscheute: ihrer selbst so sicher, so zuversichtlich, daß man im Recht war, von so großartiger Gleichgültigkeit gegenüber dem Anliegen der Streikenden gegenüber.“

Isherwoods Jugenderinnerungen sind mehr als eine éducation sentimentale oder eine Dichterautobiografie: die Zwanziger Jahre in England bilden sich in ihnen exemplarisch ab. Um so erstaunlicher ist es, dass Isherwood auch in seinen späteren Romanen „Goodbye to Berlin“ (1939) und „A single man“ (1964) mit gleichem Scharfblick und als Brite im Ausland, in Berlin und Kalifornien, die jeweils herrschenden sozialen und privaten zeitgeschichtlichen Verhältnisse und Triebfedern zu porträtieren vermochte.

Titelbild

Christopher Isherwood: Löwen und Schatten. Eine englische Jugend in den zwanziger Jahren.
Übersetzt aus dem Englischen von Joachim Kalka.
Berenberg Verlag, Berlin 2010.
316 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783937834368

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