Die Anwälte des Teufels

Mit elf Jahren Verspätung werden fünf Vorträge zum Gedenken an Niklas Luhmann veröffentlicht

Von Nicklas BaschekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicklas Baschek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die komplexe Geschichte der deutschen Soziologie seit den 1960er-Jahren ist über eine zentrale Unterscheidung, ein Mantra vom „Entweder-Oder“ leicht zu erzählen: Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann. Diese Polarisierung wirkt auch heute noch nach, wenn die Positionen vieler Professorinnen und Professoren dadurch absteckt werden, dass sie als „Habermasianer“ oder „Luhmannianer“ auf der soziologischen Landkarte auftauchen.

Der von Wolfram Burckhardt herausgegebene Band „Luhmann Lektüren“ versammelt nun fünf Vorträge, die zu Ehren Niklas Luhmanns 1999 in Freiburg gehalten wurden und macht glücklicherweise nicht den Fehler, bloß in autopoietischer Selbstgenügsamkeit das Who is Who der deutschen Systemtheoretikerschaft zu versammeln, um weiter dem großen Paradigmen-Inzest anzuhängen. Lediglich die Beiträge Dirk Baeckers und Peter Fuchs’ entspringen einer klar systemtheoretischen Sozialisation, mit Norbert Bolz, Hans Ulrich Gumbrecht und Peter Sloterdijk finden aber auch Auswärtige und Grenzgänger benachbarter Wissenschaften wie der Philosophie und der Literaturwissenschaft Gehör. Die Frage, welche Innovationen das Luhmann’sche Denken bereit hält und wie die zukünftige Arbeit an und mit ihm aussehen könnte, verbindet dabei alle Vorträge lose.

Dass Niklas Luhmanns Werk eine tiefe Zäsur der Sozialtheorie markiert, ist für alle Beiträger unbestreitbar. Mit Ausnahme von Dirk Baecker, der sich hier für den speziellen Fall der systemtheoretischen Managementsoziologie interessiert, zielen alle auf das Projekt Systemtheorie in toto und nehmen seine fundamentale Architektur in den Blick.

Bolz und Gumbrecht gehen dabei so weit, dieses in Anspruch und Umfang mit Hegels Bau eines eigenen philosophischen Systems zu parallelisieren. Während jedoch das Hegel’sche Projekt davon lebt, die kopernikanische Wende Immanuel Kants vor sich zu haben und sich kritisch zu dessen „Subjektivismus“ verhalten zu können, vermittelt dieser Band eine große Gewissheit: Ein solch mächtiger Gegenspieler auf Augenhöhe ist für Luhmann zu Lebzeiten gar nicht in Sicht. Der ewige Antipode Jürgen Habermas mag zwar Luhmanns Theorie auf dem Weg zum Klassiker als intellektueller Kratzbaum gedient haben, aber offenkundig stellt er für die Autoren keine echte Herausforderung des Luhmann’schen Projekts mehr dar.

Zu „naiv“ die Habermas’sche Aufklärungstreue und seine Gemeinschaftsrhetorik im Begriff der Lebenswelt. „Konsens ist Nonsens“, so Bolz’ giftiges Urteil über die Theorie des kommunikativen Handelns. Peter Sloterdijk versteht die besondere Leistung Luhmanns dann auch darin, dass er gegen die philosophische Tradition endlich wieder die Rolle des Teufels stark mache, gegen allzu viel moralische Integrität die Abweichung, das Andere, das Böse gar in die Gesellschaftstheorie hineinhole, anstatt trotzig die Augen zu verschließen.

Die Rollen in diesem Band sind klar verteilt und mit einiger Verve vertreten: Luhmann ist der wahre Umstürzler, der Radikale der deutschen Soziologie, der sich von den humanitaristischen, rationalistischen und identitätsphilosophischen Restbeständen der Moderne verabschiedet hat und den Weg weist in eine „Gesellschaftstheorie im dritten Jahrtausend“, wie es Peter Fuchs mit einigem Pathos ausdrückt. Tatsächlich vermitteln die Beiträge einiges vom Charme des Luhmann’schen Denkens, indem der unbescheidene, gebrochene „Holismus“ Luhmanns greifbar wird: Sloterdijk führt mit bekannter und provozierender Assoziationsgabe vor, wie das differenztheoretische Paradigma Luhmanns gegen die Tradition der Moralphilosophie aufbegehrt: Der Teufel sei der Erfinder der Zwei, „denn alles, was gut ist, ist eines“. Schon der Beginn, die Unterscheidung System/Umwelt ist als Schuld zu deuten: als „,Tathandlung‘ der Spaltung“. Luhmann jedoch – damit gleichermaßen gegen die „Feinde des Systems“ von links und von rechts in Weimar wie auch gegen einen Marxismus gerichtet, der all das zu Beseitigende, das Versklavende und Inhumane in den Systembegriff schiebt – sei der einzige echte „Asatanist“, weil er nicht von solchen Beseitigungsfantasien des Systems als dem Bösen schlechthin getrieben sei. Sloterdijks Essay (dieser stellt eine deutlich erweiterte Fassung des Vortragstext dar) zeigt besonders eindrücklich das Potenzial der Systemtheorie für’s Unorthodoxe – jenseits schnöder Verschlagwortung.

Freilich bietet die Form der Vorträge auch Grund zu mancher Enttäuschung. Die wohl vor allem dem Vortragsrahmen geschuldete assoziative und grobkörnige Beobachtungsperspektive bietet wenig Detailreichtum: Indem ausschließlich das Fundament der Luhmann’schen Systemtheorie abgeklopft wird, wissen die Beiträge über einige Baustellen und Folgeprobleme in der Statik der Systemtheorie Luhmanns hinwegzugehen, die en detail aufzuspüren wären und an denen Kritiker wie auch Systemtheoretiker der zweiten und dritten Generation derzeit arbeiten. Einzig Dirk Baecker wagt sich an eine solche exegetische Arbeit und illustriert anhand der Figur des Managers, wie sich Luhmanns Theorie in den Jahrzehnten verändert hat und wie der Weg ins System von mancher Verwerfung gezeichnet ist.

Kritische Töne schließlich erlaubt sich der Stanforder Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, der das Verhältnis der Luhmann’schen Theorie zur philosophischen Tradition beleuchtet. Dabei glaubt Gumbrecht in der Figur des Beobachters einen Rückfall konstatieren zu können: Hier nun sei doch eine Wiedergeburt des Subjekts erkennbar, Luhmanns Leitunterscheidung von System/Umwelt sei nun zurückgefallen ins Descartes’sche Subjekt/Objekt-Schema. Gumbrechts Einspruch stellt sich quer zu Sloterdijks Apotheose der Differenztheorie, denn mit der Figur des Beobachters sei doch wieder die alte Identitätsphilosophie des Subjekts, der ultimative Einheitsgedanke installiert. Diese Kritik Gumbrechts missachtet allerdings die – wie immer rückblickend – stringente Entwicklungsgeschichte der Systemtheorie. Gerade erst die Beobachtungstheorie, die Luhmann mit Hilfe des Werkes „Laws of Form“ des Mathematikers und Philosophen George Spencer Brown erarbeitet, stellt das differenztheoretische Paradigma Luhmanns auf erkenntnistheoretisch belastbare Füße. Luhmann zitiert Spencer Browns Aufforderung „draw a distinction“, trifft eine Unterscheidung, um klar zu machen, dass jede Beobachtung von einer Unterscheidung lebt. Jeder Gegenstand, jede Identität hat eine andere Seite, ist definiert durch all jenes, was er/sie eben nicht ist. Wer von Männern spricht, unterscheidet sie zunächst und implizit von Frauen. Die paradoxe Einsicht ist dann: Jede Identität, gleich ob von einem Gegenstand, einem Wert wie jener der Demokratie, einer Person oder einem Kollektiv die Rede ist, ist nur möglich über Differenz, also über den immer vollzogenen Ausschluss anderer Dinge, Werte, Personen und Gruppen.

Die Demokratie ist, was sie nicht ist. Luhmanns deontologische und konstruktivistische Grundhaltung gelangt erst hiermit vollends zur Entfaltung. Dieser erkenntnistheoretische Clou erinnert endgültig an den Poststrukturalismus im Stile Jacques Derridas und erklärt das Unbehagen Luhmanns mit dem Titel „Systemtheorie“: Sie müsse System/Umwelt-Theorie heißen, denn Systeme seien überhaupt nur denkbar über und in ihrer Umwelt als all jenes, das nicht Teil des Systems ist. Für den Beobachter, den Gumbrecht zum Subjekt machen will und damit zur metaphysischen Prämisse, zum „Abschlussgedanken“ heißt das: Es gibt keine erste und auch keine privilegierte Beobachtung oder einen privilegierten Beobachter, sondern auch jede Beobachtung einer Beobachtung führt die konstitutiven Probleme jeder Beobachtung mit sich. In Luhmanns Worten: Ein jeder Beobachter kann nicht sehen, was er nicht sehen kann. Der Beobachter zweiter Ordnung ist nicht unhintergehbar, wie Gumbrecht behauptet, sondern ist selbst wieder nur ein Beobachter unter Gleichen, wieder zwingend „naiv“, wieder Konstrukteur und wieder nicht dazu in der Lage, die andere Seite seiner Unterscheidung zu sehen. Und so fort. Die Systemtheorie spielt mit der steten Dekonstruktion einer privilegierten oder allsehenden Beobachtungsposition.

Bildet die Frage danach, wie wohl die Zukunft der Sozialtheorie nach Luhmann aussehen könnte, einen gedanklichen Rahmen für alle Vortragenden, so stellt Peter Fuchs’ Beitrag die wohl provokanteste Vermutung an, wie mit der Luhmann’schen Systemtheorie weiterzuarbeiten sein wird. Sie verabschiede sich vom Systembegriff, weil dieser durch seine Metaphorik des Raums suggeriere, es gäbe bloß zweierlei: Anwesenheit und Abwesenheit, drinnen und draußen. Diese Binarität jedoch unterlaufe die Systemtheorie mit Spencer Brown längst.

Ein radikales Gedankenexperiment, welches eine Systemtheorie ohne Systeme zeitigen würde. In den seitdem verstrichenen elf Jahren zumindest ist eine solche „Postsystemtheorie“ jedoch noch nicht zu erkennen. Aber die Motivation für systemtheoretische Höhenflüge dürfte nach den „Luhmann Lektüren“ nicht abgenommen haben.

Titelbild

Dirk Baecker / Norbert Bolz / Peter Fuchs / Hans Ulrich Gumbrecht / Peter Sloterdijk: Luhmann Lektüren.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2010.
160 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783865991133

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