Ist Homer der Vater Europas?

Heinz Ludwig Arnolds vielseitige Studie über „Homer und die deutsche Literatur“

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dem Volk Homers geht es schlechter als dem Volk Goethes“, war kürzlich in einer deutschen Tageszeitung zu lesen. Der Kommentator spielte damit nicht nur auf die gegenwärtige schlechte wirtschaftliche Lage Griechenlands an, sondern auch auf die Bedeutung Homers für die Griechen und die Bedeutung Goethes für die Deutschen. Aber auch Homer hat seit jeher, insbesondere seit der frühen Neuzeit, zu den Konstanten der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte gehört und wird sowohl in Griechenland als auch in Deutschland als großer Poet verehrt.

Die Faszination für den griechischen Dichter der „Ilias“ und der „Odyssee“ führt das kürzlich bei „edition text & kritik“ erschienene Sonderheft „Homer und die deutsche Literatur“ deutlich vor Augen, in dem viele kompetente Griechenland- und Homer-Kenner subtil und diffizil den Spuren nachgegangen sind, die die Homer-Rezeption in der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte bis heute hinterlassen hat.

Allerdings hat Homer nicht von Anfang an die europäische Literatur, Tradition und Geschichte mitgeprägt. Vielmehr war Europas Identität vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein ausschließlich im Christentum verankert. Erst durch den Kontakt mit fremden Welten, insbesondere durch die Türkenkriege im 16. und 17. Jahrhundert, schreibt Christoph Ulf, Professor für Alte Geschichte an der Uni Innsbruck, erkannte man, dass die christliche Identität für Europa keine ausschließliche Gültigkeit beanspruchen könne, so dass dann Montesquieu unter Berufung auf Aristoteles in Europa ein Symbol der Freiheit, in Asien hingegen eines für den Despotismus gesehen hat. Später wurden bürgerlich-liberale Wünsche auf Griechenland projiziert. In den 1950er-Jahren habe man, so Ulf, mit dem Begriff Europa den „Verlust der Machtstellung der großen europäischen Nationen in der Welt“ zu kompensieren versucht.

Regina Toepfer deutet in ihrem Beitrag ebenfalls an, dass Homer keineswegs von Anfang an als Vater Europas begriffen wurde. Immerhin waren die Werke Homers dem lateinischen Mittelalter völlig unbekannt, während der Dichter schon in der Antike als ideales Vorbild gewürdigt worden war. Erst in der frühen Neuzeit änderte sich die Rezeptionslage grundlegend: „Der Druck der deutschen ,Odyssea‘ 1537/38 markiert den Beginn der volkssprachlichen Homer-Rezeption, durch den der griechische Dichter Einzug in die deutsche Literatur erhält.“

Vor allem in der Zeit der Aufklärung gewann Homer zunehmend an Bedeutung, wie aus einigen Aufsätzen hervorgeht. So verehrte Denis Diderot den griechischen Dichter wie einen Gott, und Jean-Jacques Rousseau sah in seinen Werken einen urtümlich freien Naturzustand abgebildet. In Deutschland wurde die Rezeption Homers ganz besonders durch Johann Joachim Winckelmanns Verehrung für den griechischen Epiker und durch die deutschen Übertragungen der „Odyssee“ und der „Ilias“ des Homer-Übersetzers Johann Heinrich Voß geformt.

Johann Wolfgang von Goethe hat sich bekanntlich zeitlebens mit Homer auseinandergesetzt, vor allem da Schillers Sympathie weitgehend dem Schicksal der Trojaner galt. Friedrich Hölderlin und Heinrich von Kleist beschäftigten sich in erster Linie mit dem Tod vieler Griechen in der Endphase des Kampfes und während der Heimfahrt, sowie mit dem tödlichen Konflikt zwischen Achill und Penthisilea. Heinrich Heines Gedicht „Poseidon“ zeugt ebenfalls von großem Interesse an den Griechen und der Odyssee. Gerhart Hauptmann versuchte dagegen, in seinem Drama „Der Bogen des Odysseus“ die Heimkehr der Helden nach Ithaka unter Betonung sozialer Züge neu zu gestalten. Rainer Marie Rilke, Franz Kafka und Bertolt Brecht haben sich auf das Sujet „Odysseus und die Sirenen“ konzentriert. Erinnert sei in diesem Zusammenhang ferner an James Joyces Roman „Ulysseus“ sowie an Stefan Zweig und Franz Werfel, die das Troja-Sujet in Vorahnung des Ersten Weltkrieges aktualisierten, während sich Jahrzehnte später, im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges, Jean Giraudoux abermals des Themas annahm. Wolfgang Hildesheimer, Peter Hacks, Heiner Müller, Walter Jens und Jean-Paul Sartre haben sich gleichfalls der griechischen Geschichte und Literatur bemächtigt. Die Seherin Kassandra wurde in den 1930er- und 1940er-Jahren und noch lange danach beschworen, von Heinz Politzer, Max Hermann Neiße, Richard Friedenthal, Johannes Bobrowski, Günter Kunert und Christa Wolf. Anna Seghers verfasste die Erzählung „Der Baum des Odysseus“, Lion Feuchtwanger „Odysseus und die Schweine oder Das Unbehagen an der Kultur“. Auch Botho Strauß, Franz Fühmann und viele andere bekannte und weniger bekannte Autoren erwärmten sich für griechische Stoffe.

Eine Reihe der hier vertretenen Autoren geht näher auf die Homer-Rezeption einzelner Dichter, Literaten und Philosophen ein und beschreibt sachkundig und genau, wie sich diese im Detail des griechischen Dichters und seiner Figuren bedienten, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Homer-Bearbeitung wird skizziert und erläutert, ebenso die von Friedrich Gottlieb Klopstock, der schon in der Schulzeit sein Dichtertum ins Zeichen der homerischen Tradition stellte. Bei dem Dichterfürsten Goethe hat Ulrike Landfester drei Phasen seiner Beschäftigung mit Homer ausgemacht. Auch bei Wilhelm von Humboldt nehmen Homer und seine Epen eine zentrale Position ein. Andere Beiträge sind dem „spekulativen Homer der Romantik“ und der Homer-Rezeption in Gustav Schwabs „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ gewidmet, ein weiterer Beitrag gilt Friedrich Nietzsche, für den Homer ein Prototyp der Dichtkunst war.

So sind sowohl der homerische Sagenkreis im allgemeinen als auch die „Ilias“ und die „Odyssee“ über Jahrtausende hindurch lebendig geblieben und gelten als Urtexte der Weltliteratur, die das Selbstverständnis vieler Generationen bis in unsere Gegenwart hinein beeinflusst haben. Dies ist nicht weiter verwunderlich, offenbaren sich doch in den alten Mythen menschliche Grundkonflikte in vollendeter künstlerischer Gestaltung, insbesondere die beiden Charaktere Achilleus und Odysseus stehen, wie der Basler Gräzist Joachim Latacz in einem 2008 erschienenen Spiegel-Artikel befand, der hier von Christoph Ulf zitiert wird, für „zwei Grundmöglichkeiten der Weltsicht und der Weltbewältigung“.

Erst kürzlich haben die Diskussionen um Raoul Schrotts Thesen, nach denen Homer ein kilikischer Grieche in assyrischen Diensten gewesen soll und die nicht wenige Experten für abwegig halten, den Diskussionen um Homer und Troja neuen Auftrieb gegeben.

Selbst Phasen verstärkter Übersetzungsaktivitäten standen und stehen im engen Zusammenhang mit kulturellen Umbrüchen. Daher ist es wohl kein Zufall, dass schon in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts konkurrierende Übersetzungsprojekte die Homer-Rezeption erneut stimulieren und ein nicht nachlassendes Interesse an der Antike bekunden.

Markus Janka hat Kostproben von Übersetzungsausschnitten zusammengestellt, die die „Suche nach dem deutschen Homer der Postmoderne“ belegen, angefangen mit einem Textauszug von Johann Heinrich Voß aus den Jahren 1781 bis 1793, über Rudolf Alexander Schröders (1910/11), Wolfgang Schadewaldts (1958) und anderen Übersetzungen bis hin zu Christoph Martins Übertragung aus dem Jahr 1996 und der von Kurt Steinmann aus dem Jahr 2007, gefolgt von Raoul Schrotts Übertragung von 2008, die indes länger ausgefallen ist als die übrigen Beispiele.

Die vielseitige Studie – sie schließt mit einer Übersicht deutscher Homer-Übersetzungen seit der frühen Neuzeit – bietet mit ihren zahlreichen differenzierten Analysen und feinsinnigen Überlegungen allen, die an Literatur und dem Einfluss Homers auf sie interessiert sind, eine abwechslungsreiche Lektüre und regt sicher manchen Leser zu eigenen Recherchen an.

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Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Homer und die deutsche Literatur.
edition text & kritik, München 2010.
300 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783869160825

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