Das Leben der Bohèmienne

Cornelia Küchmeister, Dörte Nicolaisen und Ulrike Wolff-Thomsen haben einen hervorragenden Begleitband zu einer wunderbaren Ausstellung über Franziska Gräfin zu Reventlow erstellt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Aus der Ferne“ des „historischen Abstands“ erscheine ihr Franziska zu Reventlow „fast so, wie ich mir die befreite Frau der Jahrhundertwende vorstellen könnte“, bekannte Marlis Gerhardt Anfang der 1980er-Jahre in einem kurzen Text über die „hetärische Frau“ Schwabings. Denn Reventlow scheine „die Befreiung von Konventionen, die sie nicht akzeptieren konnte und wollte, zur Maxime ihres Handelns“ gemacht und „eine Utopie in Lebenspraxis übersetzt zu haben“.

Doch belässt es Gerhardt nicht bei diesem „allzu schönen, allzu utopischen Bild eines Lebens ohne Unglück, Depression und Erschöpfung“, sondern konstatiert, dass es sich „beim genaueren Hinsehen“ verschiebe. Nun irrte Gerhardt in ihrem kurzen Text über die fleischgewordene Männerfantasie Ludwig Klages’ zwar in so manchem. In diesem Punkt aber gelingt es ihr tatsächlich, ein akkurateres Bild des vermeintlichen „Weltkinds, dem das Leben jenseits der Konvention leicht zu fallen schien“, zu zeichnen.

Seither ist der historische Abstand zu Reventlows Leben um annähernd weitere dreißig Jahre angewachsen. Doch dies macht es keineswegs schwieriger, sich dem Leben der Bohèmienne zu nähern. Vielmehr lässt sich nun sogar noch ein wenig genauer hinschauen als dies Gerhardt während der Niederschrift ihres Essays möglich gewesen war, ohne sich in den Tiefen diverser Archive zu vergraben zu müssen. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand zu danken, dass verschiedene Reventlow-Forschende den gelegentlich erst noch zu findenden Weg zu den teils verstreuten Archivalien nicht scheuten. So wurde im Jahre 2004 erstmals der Briefwechsel Reventlows mit ihrem langjährigen Partner Bohdan von Suchocki publiziert und zwei Jahre darauf kam eine neue Edition von Reventlows Tagebüchern auf den Markt – die erste verlässliche. Hinzu kam ein weiteres Jahr später ein Sammlung zahlreicher „Rezensionen, Porträts, Aufsätze, Nachrufe aus mehr als hundert Jahren“, auf die Reventlow-Interessierte ungeachtet aller Schwächen des Bandes nur ungern verzichten dürften. Er erschien unter dem Titel „Über Franziska zu Reventlow“.

Und soeben brachte der Wallstein Verlag eine weitere dieser Publikationen auf den Markt, die das Dasein der Reventlow-Forschenden und -Fans wiederum etwas komfortabler gestaltet. Es handelt sich um den Katalog einer Ausstellung, die der Husumer Gräfin, die zur Münchner Königin der Bohème aufstieg, gewidmet ist. Alleine schon die zahlreichen unveröffentlichten Zeugnisse unterschiedlichster Art machen den gewichtigen Band geradezu unverzichtbar. Da wären etwa die Photographien von Reventlow, ihren Verwandten und Bekannten sowie von Örtlichkeiten, die in ihrem Leben eine Rolle spielten. Ebenso wertvoll sind die inhalts- und teils auch umfangreichen Zitate aus dem unpublizierten Familienbriefwechsel und aus Briefen, die Bekannte Reventlows untereinander tauschten. Und nicht zuletzt die Farbreproduktionen der beiden einzigen überlieferten Ölbilder der passionierten Malerin. Die beiden auf Vorder- und Rückseite einer Malpappe gemalten Bilder zeigen Bohdan von Suchocki und den Innenhof des berühmten Eckhauses, in dem er und Reventlow gemeinsam mit Franz Hessel einige Jahre lebten.

Schirmherr der Ausstellung, die das alles präsentiert, ist der Schleswig-Holsteinische Ministerpräsident Peter Harry Carstensen. So durfte er auch ein Grußwort zum Katalog beisteuern, in dem er Reventlows Leben „hohen Respekt“ zollt. Zweifellos verdient es den. Allerdings hätte man ein derartiges Lob für ein Leben, das von unehelicher Mutterschaft, einem promiskuitiven Liebesleben, Prozessen wegen Gotteslästerung und überhaupt dem Bruch mit allen nur denkbaren (gut-)bürgerlichen Konventionen geprägt war, aus dem Munde eines honorigen CDU-Politikers, dessen eigene Biografie – soweit bekannt – nicht im Geringsten Vergleichbares erahnen lässt, kaum für möglich gehalten.

Dem insofern überraschenden Grußwort folgt ein von Holger Pils, Jens Ahlers, Sven-Hinrich Siemers und Reinhard G. Wittmann verfasstes Vorwort, in dem sie die „Schattenseiten“ des titelstiftenden Reventlow-Zitats „Alles möchte ich immer“ ansprechen. Zu diesen Schattenseiten zählen die vier Herren „Bindungslosigkeit, Krankheit, der beständige Kampf gegen materielle Not und Depression bis zur Lebensmüdigkeit“. Daran stimmt allerdings so einiges nicht. Bindungslos war Reventlow keineswegs. Vielmehr war sie ihrem Sohn zeitlebens aufs engste verbunden, über lange Jahre hinweg auch Bohdan von Suchocki und – bei allen Projektionen seinerseits – für einige Zeit auch Ludwig Klages. Es ließen sich weitere Namen nennen. Auch steht der Befund der „Bindungslosigkeit“ doch zumindest in einem gewissen Spannungsverhältnis dazu, dass Reventlow „liebesbegabt“ gewesen sei, wie das Herrenquartett ebenfalls konstatiert. Reichlich gewagt, um nicht zu sagen abwegig ist es auch, Reventlows von ihnen nicht näher bezeichnete „Krankheit“ – gemeint sein dürften die wiederholten Unterleibsoperationen – auf deren Bedürfnis nach unmittelbarer allseitiger Wunscherfüllung zurückzuführen. Gleiches gilt für ihre zeitweiligen Depressionen.

Die vier zentralen Textbeiträge des Bandes weisen ihre Autorinnen hingegen ausnahmslos als exzellente Reventlow-Kennerinnen aus. Ihre Texte sehen davon ab, Reventlows Lebensweg nachzuzeichnen, sondern beleuchten einige Phasen und bislang weithin im Dunkeln liegende Aspekte aus dem Leben und Werk der Literatin, die lieber eine Malerin gewesen wäre. Besonderen Raum nimmt dabei die von Dörte Nicolaisen und Kornelia Küchmeister in getrennten Abschnitten behandelte Lübecker Zeit der Heranwachsenden ein. Dies ist nicht zuletzt darum wohlbegründet, weil gerade hierzu die meisten unveröffentlichten Texte – in aller Regel Briefe – aufgefunden wurden. Küchmeister hat noch einen zweiten Abschnitt beigesteuert, der sich mit Reventlow und den „polnischen Münchnern“ befasst, von denen selbstverständlich weit mehr zu Reventlows Bekanntenkreis zählten als nur ihr geliebter Bohdan zu Suchocki.

Mindestens ebenso ertragreich wie die Beiträge von Nicolaisen und Küchmeister ist der von Ulrike Wolff-Thomsen geschriebene Abschnitt über Reventlows „bildkünstlerische Arbeit“, in dem sie Reventlow nicht nur als Zeichnerin und Malerin vorstellt, sondern auch ihre Werke begutachtet. Die Kunsthistorikerin gelangt zu der Überzeugung, dass die passionierte Malerin offenbar „selbst in den Grundlagen künstlerische Techniken nicht geschult war“ und sich auch „über die Findung einer individuellen künstlerischen Aussage keine oder kaum Gedanken gemacht“ hat. Doch habe sie gleichwohl eine „große Freiheit im Umgang mit Farbe und Pinsel“ besessen. Neben den gezeichneten und gemalten Werken beleuchtet Wolff-Thomsen Reventlows „Integration in die Künstlernetzwerke Münchens“.

All diese Texte, der Blick in die Lübecker Zeit der „kleinen Komtesse mit dem eisernen Willen“, die Abschnitte über „Polski Wahnmoching“ und über Reventlows Malerei, bieten zahlreiche bislang unbekannte Fakten und Zeugnisse. Einzig Ulla Egbringhoff kann in ihrem Artikel über „Reventlows ambivalentes Verhältnis zur Autorschaft“ nur mit wenigen innovativen Erkenntnissen aufwarten. Das ist bei ihrem Thema allerdings auch nicht ganz einfach. Dennoch hätte sie darauf verzichten können, den vorherrschenden harmlosen und verharmlosenden Blick auf die Gelegenheitsprostitution der verarmten Gräfin aufzunehmen und weiter zu tradieren, indem sie betont, Reventlow habe keine moralischen Bedenken gehabt, sich zu prostituieren. Das ist zwar zutreffend, aber eben nur die halbe Wahrheit, wenn wie meist und so auch bei Egbringhoff unterschlagen wird, wie sehr Reventlow darunter litt, dies tun zu müssen. Zwar war es kein Zuhälter, der sie dazu zwang, aber doch die schiere Not. Man kann insofern auch in Reventlows Fall ohne weiteres von Zwangsprostitution reden.

Im bereits genannten Vorwort wird dem Wunsch Ausdruck verliehen, „dass die Ausstellung zu einer weiteren Beschäftigung mit Franziska zu Reventlow anregt“. Der Rezensent schließt sich dem vorbehaltlos an und setzt seine Hoffnung zudem auf den dazugehörigen Katalog, der hiermit allen empfohlen sei, die sich vom Leben Reventlows faszinieren lassen möchten; auch und gerade jenen, die keine Gelegenheit haben, die Ausstellung selbst zu besuchen. Sie wird bis zum 21.11.2010 im Lübecker Buddenbrookhaus gezeigt, vom 12.12.2010-6.3.2011 in der Schleswigholsteinischen Landesbibliothek zu Kiel, vom 27.3.-5.6.2011 im Schloss vor Husum, vom 7.7.-12.8.2011 in Vertretung des Landes Schleswig-Holstein beim Bund in Berlin und vom 22.9.2011-15.1.2012 im Literaturhaus München.

Titelbild

"Alles möchte ich immer". Franziska Gräfin zu Reventlow (1871-1918).
Herausgegebn vom Buddenbrookhaus Lübeck.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
234 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835308305

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