Liebe, Sex und Tod

Tristan Garcias Roman „Der beste Teil der Menschen“ aus dem Paris der 1980er-, 1990er- und Nullerjahre

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Frankreich wird das Private häufig zum Öffentlichen, wird nicht so versteckt und verheimlicht, wie wir das hierzulande kennen und tun. Aktuellster und wohl auch prominentester Beleg hierfür ist die Soap aus dem Élysée-Palast. In der französischen Literatur ist dieses Phänomen ebenfalls deutlicher erkennbar, als in der deutschen: mit Büchern von Anne Wiazemsky, der Tochter des Literaturnobelpreisträgers François Mauriac („Berliner Kind“) und Justine Lévy, Tochter des berühmten Philosophen Bernard-Henry Lévy („Schlechte Tochter“) liegen aktuell zwei Bücher vor, in denen das kulturelle und geistige Leben in Frankreich, speziell in Paris in Romane Eingang findet. Und Vater Lévy steht dieser Offenheit in nichts nach, sein Briefwechsel mit dem ihm an Narzissmus ebenbürtigen Michel Houellebecq ist seit einem Jahr auch in deutsch unter dem Titel „Volksfeinde“ nachlesbar.

Der Reigen der exhibitionistischen Prosa, die zwischen Dokumentation und Fiktion lose changiert, ließe sich mit Grégoire Bouilliers schon im Titel eindeutig als dieser Gattung zugehörigen Roman „Ich über mich“ und vor allem mit den beiden Skandalbüchern Cathérine Millets fortsetzen. Hier nun kommt Tristan Garcias Buch „Der beste Teil der Menschen“ ins Spiel, der 2008 in Frankreich für enormes Aufsehen gesorgt hat, als erstaunlichstes Debüt bezeichnet wurde und dessen Autor, 1981 in Toulouse geboren, damit zum Literaturstar wurde.

Es geht in diesem radikalen Roman um vier Personen in Paris in der Zeit von den späten 1980er-Jahren bis in die ersten Jahre des neuen Jahrtausends. Da ist Dominique Rossi, ein smarter, kluger Typ, der die Nachtclubsszene in Paris wie seine Westentasche kennt und in diversen Magazinen darüber berichtet. Seine Kollegin Elisabeth Levallois profitiert von seinen Kontakten und wird zu einer angesehenen Journalistin. Sie ist die Erzählerin des Buches, die Chronistin jener wilden Jahre, die so überbordend begannen und so fatal und widerlich endeten. Doch weiter in der Personnage: Jean-Michel Leibowitz ist der telegene, eitle französische Vorzeigeintellektuelle, der sein aufgeklärtes modernes Jüdischsein vor sich her trägt und in dem von Libertinage geprägten Leben in der Stadt der Liebe neben seiner Familie natürlich auch noch eine Affäre am Laufen hat: mit Elisabeth Levallois.

Das Quartett wird vervollständigt mit einer Art Punk, William Miller, einem jungen Kerl aus der Provinz, der die Drei und ihre Zirkel gehörig aufmischt. Dominique oder Doum oder Doum-Doum oder Doumé – der Autor hat einen Riesenspaß daran, seinen Protagonisten eine Fülle an Spitznamen zu verpassen – gründet 1986/87 den Verein STAND, der die Interessen der Schwulen und Lesben wahrnimmt, denn in dieser Szene spielt der Roman hauptsächlich. Es ist die Zeit der ersten HIV-Infektionen, der ersten AIDS-Toten und somit das Ende zügelloser Sexparties, hemmungsloser Partnerwahl und ungeschützten Sex’.

Die Magazine, der Verein STAND, die Diskussionen, alles wird zunehmend politischer, die Fronten werden deutlich sichtbar, doch es ist immer noch Platz für Spaß und Leidenschaft. Vor allem Dominique und der durch nichts und niemanden zu bändigende Willie führen noch eine ganze Zeitlang eine homosexuelle Beziehung, ehe Willie seinen ehemaligen Mentor verlässt. Der derart herb Enttäuschte inszeniert fortan einen teilweise öffentlich ausgetragenen lange Jahre währenden Privatkrieg, in dem Willie, mittlerweile zum Liebling der Medien avanciert und zum Schriftsteller geworden, schmutzigste Details auspackt, für ungeschützten Verkehr plädiert (weil nur der die wahre Ekstase und die völlige Freiheit ermögliche) und sich dadurch immer mehr zur Unperson macht. Die alten Freunde Leibowitz und Rossi, taktisch versierter und mit mehr medialem und politischem Einfluss ausgestattet, attackieren den wild Gewordenen, wobei sie auch Elisabeth Levallois, langjährige Vertraute und Freundin Willies, instrumentalisieren.

Der stark dialoglastige Roman verblüfft durch seine Kenntnis diverser Szenen, bietet einen erstaunlich umfassenden und dabei gut lesbaren Überblick über die vergangenen circa 25 Jahre in Frankreich, speziell in Paris und zeigt exemplarisch, wie sich mit den wachsenden Zwängen, dem Willen zur Macht und der Behäbigkeit des Älterwerdens politische und gesellschaftliche Ansichten und Meinungen wandeln. Vor allem an den Personen Rossi und Leibowitz verdeutlicht Garcia den auch hierzulande bekannten Wandel vom linken Aktivisten zum arrivierten Salonintellektuellen und Funktionär mit rechter bis reaktionärer Haltung. Dass dieses Buch, das literarisch zwar nicht brillant, doch in seiner Wiedergabe radikaler Szenesprache extrem konsequent ist, in Frankreich provoziert, ist wahrscheinlich Programm des Autors, den man durchaus in der Nachfolge von Houellebecq oder dem frühen Frédéric Beigbeder sehen kann. Beeindruckend an „Der beste Teil der Menschen“ ist auch, dass ein 27-jähriger Autor, der diese Periode ja selbst nicht wirklich in Gänze miterleben konnte, so souverän die weibliche Erzählhaltung einnimmt und mit Elisabeth das heimliche Zentrum des Buches geschaffen hat. Sie nämlich, die allen immer Zuhörerin, Liebhaberin, Freundin war, die geholfen und Obdach gewährt hat, ist am Schluss die emotional Ausgebeutete, der Abfall dieser Geschichte.

Titelbild

Tristan Garcia: Der beste Teil der Menschen. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Kleeberg.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2010.
317 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001704

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