Von der Seelen(un)ruhe

Zur deutschen Erstveröffentlichung von Sofja Tolstajas neu entdecktem Roman „Lied ohne Worte“

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist kein Wunder, dass Sofja A. Tolstaja (1844-1919) nach ihrem (erst 1994 publizierten) Buch „Eine Frage der Schuld“ auch ihren zweiten Roman nicht zu ihren Lebzeiten veröffentlichen ließ. Denn auch im Falle von „Lied ohne Worte“ wäre der Skandal zu groß gewesen. War es doch allzu offensichtlich, dass es in ihrer Ehe mit dem weltberühmten Schriftsteller Lew N. Tolstoj (1828-1910) schon längere Zeit kriselte. So lag – im Gegensatz zu ihren Erzählungen für Kinder, ihren literarischen Porträts von Zeitgenossen, ein Gedichtzyklus’ sowie ein Teil ihrer Tage- und Notizbücher, die entweder zu ihren Lebzeiten oder nach ihrem Tod erschienen – das Manuskript ihres 1897 bis 1900 geschriebenen Romans mit dem Titel „Pesnja bes slow“ gut hundert Jahre unter Verschluss. Erst vor kurzem wurde das neun Hefte umfassende Konvolut, das 1938 aus Jasnaja Poljana der Handschriftenabteilung des Staatlichen Tolstoj-Museums übergeben worden war, von Ursula Keller ins Deutsche übersetzt und anderthalb Jahre nach der deutschen Erstausgabe von „Eine Frage der Schuld“ (2008) erstmals auch hierzulande herausgegeben.

Warum aber genau wagte Sofja Tolstaja das Resultat ihrer literarischen Arbeit um die Jahrhundertwende nicht zu veröffentlichen? Aus welchem Grunde wären sie wohl für alle Beteiligten zu einem Skandalon geworden? Es ist wahrscheinlich kein anderer, als dass sie die Befürchtung hatte, Öl in das Feuer zu gießen, das ihr Ehemann ihrer Meinung nach mit der Herausgabe seiner Erzählung „Die Kreutzersonate“ (1890) entfacht hatte. Entsetzt und verletzt sei sie, so schreibt Natalja Sharandak in dem ausführlichen Nachwort, vor allem darüber gewesen, dass Lew Tolstoj autobiografische Details in seiner Erzählung, mit der er die Institution der Ehe angriff, nicht aussparte. Die durch die „Kreutzersonate“ der Öffentlichkeit bekannt gewordene Entfremdung der Eheleute habe schließlich zur Folge gehabt, dass sich die dreizehnfache Mutter nach den Jahren, in denen sie ihren Mann bei der Niederschrift seiner Werke „Krieg und Frieden“ (1868/69) und „Anna Karenina“ (1878) unterstützte, wieder eigenen Arbeiten zugewandt habe. Der 1892/93 entstandene Roman „Eine Frage der Schuld“ sei als Antwort auf die besagte Erzählung ihres Ehemannes zu verstehen, in der Tolstaja der männlichen eine weibliche Sicht auf die Dinge entgegenstellt und darin, wie es Sharandak auffasst, „auch den wirklichen Grund für die Tragödie der Ehe sowohl im Roman als auch in der Kreutzersonate [beschreibt]“.

Es ist indes ein Schicksalsschlag, der Tolstaja einige Jahre später dazu veranlasst, mit Aufzeichnungen zu einem zweiten Roman zu beginnen. Anfang 1895 stirbt ihr jüngster Sohn Wanetschka im Alter von nicht einmal sieben Jahren und verursacht der Mutter große Seelennot, die durch die ständigen Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann um die richtige Lebensweise noch zusätzlich verstärkt werden. Während Lew Tolstoj immer mehr das Leben in der Natur propagiert und zelebriert, wendet sich seine Frau nach Wanetschkas Tod der Musik zu. Diese wird ihr indes durch die Person des Sergej Iwanowitsch Tanejew (1856-1915), der für die Zeit um 1900 als einer der wichtigsten russischen Komponisten und Pianisten gilt, vermittelt. Sowohl in Moskau als auch auf dem Landgut in Jasnaja Poljana ist er häufiger Gast der Familie. Bei Tanejew, so schreibt Sharandak, habe Tolstaja jenen Trost und jene Ruhe gefunden, die ihr Ehemann nicht (mehr) zu geben vermochte: „Sie bewundert seine Musik und liebt die Gespräche mit ihm. In seiner Gegenwart fühlt sie sich jung an Körper und Geist.“

Lew Tolstoj ist verärgert über die Musikbegeisterung seiner Frau, die anfängt, leidenschaftlich Klavier zu spielen, und verachtet Tanejew, der sie „hypnotisiert“ habe. Seine Eifersucht wegen des – an Frauen freilich wenig interessierten – Komponisten ist so groß, dass er Sofja im Sommer 1897 verlassen will, dann aber doch bleibt. Im Herbst desselben Jahres beginnt sie schließlich die Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit literarisch zu verarbeiten. In „Lied ohne Worte“ verknüpft sie den Tod ihres Sohnes mit ihrer durch einen Musiker geweckten neuen Leidenschaft.

„Wenn aber die Gestorbenen durch kein Zerschlagen der Brust zurückgerufen werden, wenn das unbewegliche und in Ewigkeit feststehende Geschick durch kein Jammern geändert wird und der Tod alles, was er dahingerafft hat, zurückzugeben verweigert, so höre der Schmerz auf, der ja doch verloren ist. Daher wollen wir uns beherrschen lassen, und jene Gewalt soll uns nicht querfeldein mit sich fortreißen.“ Die junge Sascha, die Protagonistin von Tolstajas zweitem Roman, liest diese und andere Worte aus der „Trostschrift an Marcia“ (um 40 n. Chr.) des römischen Stoikers Seneca (um 4 v. Chr. – 65 n. Chr.) – und zwar immer dann, wenn sie nach dem Tod ihrer Mutter von Trübsinn und Verzweiflung heimgesucht wird. Auch sind weder ihr kleiner Sohn Aljoscha noch ihr unscheinbarer Ehemann Pjotr Afanassjewtisch, der Angestellter in einer Versicherungsgesellschaft ist, am Liebsten jedoch in seinem Garten arbeitet, in der Lage, sie langfristig aus ihrer depressiven Stimmung herauszuziehen und ihr zu helfen, „ihr junges, übervolles Leben weiterzuleben“.

Da der Winter allmählich zu Ende geht, schlägt ihr Ehemann vor, für die warme Jahreszeit aufs Land zu ziehen. Doch Sascha weigert sich, auf das Gut ihrer Mutter zu fahren und ist allenfalls bereit, ein Sommerhaus anzumieten, was dann in der Folge auch geschieht. Ihr Nachbar wird kurze Zeit darauf ein Musiker, dessen Spielweise eines der „Lieder ohne Worte“ in G-Dur von Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) ihr den Trost spendet, den ihre Familie ihr bisher zu geben nicht imstande war: „In allen Variationen klang das ,Lied ohne Worte’ wunderschön, und es war, als ob es der kranken Seele Saschas etwas Empfindsames und Zärtliches erzählte, das sie beruhigte und erfreute.“ Die junge Frau verarbeitet mit Hilfe der Musik den Tod ihrer Mutter und söhnt sich mit dem Leben allmählich wieder aus. Sie lernt bald auch ihren Nachbarn, den Komponisten und Pianisten Iwan Iljitsch, kennen und die Gespräche mit ihm schätzen. Doch bald beginnt sie, sich statt für seine Kunst, immer mehr für ihn selbst zu interessieren, was ihr in der Folge neue, bittersüße Schmerzen bereitet.

Was die Figur der Protagonistin angeht, trägt Sofja Tolstajas „Lied ohne Worte“ zwar starke autobiografische Züge, doch ihre Erzählung wird anders ausgehen als es sich der Rezipient vielleicht im ersten Moment vorstellt. Ein großes Vergnügen jedenfalls ist der zweite Roman der Ehefrau von Lew Tolstoj in mehrfacher Hinsicht – unter anderem auch darum, weil er in seiner Art und Weise der Darstellung beinahe filmisch wirkt. Das Beschriebene wirkt äußerst plastisch und real. Die Figur der Sascha erscheint gelebt und in ihrem Leiden sehr überzeugend. Kehrt sie im ersten Teil des Romans sozusagen in das Leben zurück, wird sie fröhlich und vital, so zeigt der zweite Teil die Kehrseite ihrer Emotionen, wird ihr Charakter dem Leser in seinen verschiedenen Facetten näher gebracht und verständlich.

Ähnlich wie in Gustave Flauberts „Madame Bovary“ (1857) wird eine junge Frau dargestellt, die zwar finanziell gut abgesichert ist durch die bürgerlichen Verhältnisse, in denen sie lebt, die sich aber zugleich, eingezwängt und enttäuscht von ihrem farb- und leidenschaftslosen Ehemann, schließlich von diesem abwendet und aus der Ehe-Situation auszubrechen versucht. Dabei wird sie den hohen moralischen Ansprüchen, die sie sich zugleich selbst stellt, nicht immer gerecht: „,Sieh doch, überall Schmutz, überall menschliche Leidenschaft… Du liebst die Musik, doch dann beginnst du, den Menschen zu lieben – und die Musik ist verloren, befleckt durch die menschliche Leidenschaft. […] Das Wasser des Flusses ist schmutzig, die reine Erde ist bedeckt von Steinen und menschlichem Unrat, der klare Himmel ist bedeckt von Rauch und Ruß, die reine Liebe der Menschen ist besudelt vom Betrug der einander Nahestehenden, und es gibt keinen Ausweg, nein, nein, ich selbst bin beschmutzt, widerwärtig, verloren…‘“

Titelbild

Sofja Tolstaja: Lied ohne Worte. Roman.
Aus dem Russischen von Ursula Keller.
Manesse Verlag, Zürich 2010.
254 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783717522102

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