Europaliteratur als geistiges Spielfeld

Anne Kraume untersucht den literarischen Europadiskurs zwischen Pontigny und Pertisau

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Politikerinnen und Politiker „Europa eine Seele geben“ wollen, verbindet sich damit zumeist ein politisches Interesse mit der Hoffnung auf eine vermittelnde Funktion von Kultur, Literatur inklusive. Literatur soll dann Brücken bauen und den Dialog zwischen den Nationalstaaten des europäischen Kontinents befördern. Europavorstellungen erleben so nicht nur vielerlei Konjunkturen, sondern ihnen wohnt häufig implizit die Erwartung einer ebenso nationale Grenzen und Stereotypen überwindenden Perspektive wie die Vorstellung eines gemeinsamen Wertekanons inne.

Schon bei einer nur kursorischen Sichtung der zahllosen Beispiele von Reflexionen auf Europa in der inner- und außereuropäischen Literatur der letzten etwa zweihundert Jahre zeigt sich jedoch, dass es darin keineswegs primär immer um die Vision transnationaler Grenzüberschreitungen geht, sondern ebenso um Inklusion und Exklusion sowie insgesamt um allerlei bisweilen recht widersprüchliche Entwürfe. Dem trägt eine mittlerweile ziemlich ausdifferenzierte literaturwissenschaftliche Forschung Rechnung, die nach 1989 einen deutlichen Aufschwung erlebte. Nicht zuletzt die Tatsache, dass auf dem im Sommer 2010 in Warschau veranstalteten Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik eine ganze, von Paul Michael Lützeler geleitete Sektion mit ca. 40 Beiträgen dem literarischen Europadiskurs gewidmet war, belegt dies anschaulich.

Die in Potsdam lehrende Romanistin Anne Kraume hat in ihrer 2010 veröffentlichten Dissertation zu dieser Forschung eine interessante komparatistische Arbeit beigetragen. Zu Recht geht sie davon aus, dass Europa in der Literatur immer mehr meint als einen Begriff. Europa erscheint in der Literatur vielmehr als „bewegliche Chiffre“, die sie vor dem Hintergrund der Theoreme der „spatial turn“ im Sinne ihres Betreuers Ottmar Ettes sowohl als Bewegung im räumlichen wie auch im kulturellen Sinne verstanden wissen will. Ebenso plausibel ist ihr Hinweis auf Daniel Weidners grundlegenden Sammelband „Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven“ (2006), der mit dem rhetorischen Begriff der Figur einen interpretatorischen Mehrwert kenntlich macht, durch den die Dynamik des literarischen Diskurses angedeutet werden kann. Kraume setzt in ihrer Einleitung dieses Oszillieren zwischen (geografischem) Begriff und (literarischer) Figur ihren Analysen voraus.

Mit Ernst Robert Curtius und dessen bekanntestem Werk „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ (1948) hat sie eine überzeugende Klammer gefunden, um ihre Analysen zu den acht Autoren Victor Hugo, Miguel de Unamuno, José Ortega y Gasset, Eugeni d’Ors, René Schickele, Heinrich Mann, André Gide und Klaus Mann miteinander zu verbinden. Im Sommer 1922 wurden zum ersten Mal nach dem Ersten Weltkrieg die „Entretiens d’Été“ (Unterredungen im Sommer) von Pontigny wieder aufgenommen, eine Zusammenkunft europäischer Intellektueller, die sich auf Einladung von Paul Desjardins zehn Tage lang in der ehemaligen Abtei in Burgund austauschten. Ernst Robert Curtius, der in diesem Sommer auf Vermittlung André Gides erstmals an dem Treffen teilnahm, hielt über den Ort fest: „Pontigny ist ja ein Europa im kleinen, ein europäischer Mikrokosmos.“

Hier sieht Curtius eine Einheit von Lebensformen und Geistigkeit verwirklicht. Von der Beobachtung ausgehend, dass Curtius zur Darstellung seines kulturellen Verständnisses von Europa bevorzugt auf räumliche Metaphern zurückgreift, stößt Kraume auf diejenige der Insel, des Gartens und der Reise. Die drei Metaphern stehen „jeweils für einen bestimmten Raum oder eine Bewegung innerhalb Europas“. Der metaphorisch verstandene Garten, der bei Curtius auch in Verbindung mit dem Elsass erscheint, setze ebenso wie die Insel eine klare Umgrenzung und Abgeschlossenheit ebenso wie Pflege und Kultivierung voraus. Ergänzend dazu sei die Reise „die uneingeschränkte Bewegung durch diese Gebiete der Kreativität und der Phantasie“.

Von diesen drei Metaphern lässt sich Kraume die Grundstruktur ihrer Arbeit vorgeben, weil sich an ihnen die Konstruktionsprinzipien des literarischen Europa aufzeigen ließen, wie es sich in den Texten ihrer acht Autoren manifestiert. Den Zusammenhang zwischen Curtius’ Metareflexion und den literarischen Texten der Autoren darin auszumachen, dass Europa einen genuin literarischen Raum darstelle, „der sich tatsächlich auch nur mit literarischen Mitteln beschreiben und erfassen lässt“, erscheint dann allerdings insofern verkürzend, als es Kraume, wie ihr „Rückblick und Ausblick“ deutlich macht, ganz direkt auch um die europapolitischen Konzeptionen geht. So sei die Literatur „immer auch das Medium der Möglichkeiten und Alternativen“, und das vor allem, weil sie „eben immer wieder auch politische und wirtschaftliche Diskussionen aufgreift, um sie mit literarischen Mitteln weiterzuschreiben“.

Interessant sind die in Kraumes Analysen sichtbar werdenden Verschiebungen sowohl innerhalb der einzelnen Werkkomplexe als auch zwischen den Autoren. So entwirft etwa Victor Hugo in seinem „Le Rhin“ (1842/45) ein Bild des Kontinents als eines vollendeten Bauwerks, nachdem er im „Fragment d’histoire“ (1827) zuvor die Dekadenz Europas auf Grund mangelnder Zentralisierung und Einheit des Kontinents herausgestellt hatte. Hugo schwankte zwischen zwei unterschiedlichen Vorstellungen von Empire, zwischen der Konzeption als eines sich defensiv abschließenden Territoriums und der Vorstellung eines offenen Reiches, das zwischen verschiedenen Welten vermittle. Beide Vorstellungen gerieten jedoch an ihre Grenzen: Je stärker sich Hugo seit den ausgehenden 1830er-Jahren um eine aktive Rolle in der Politik bemühte, umso mehr rückten andere Konzeptionen in den Vordergrund.

Während Hugo in seiner Gedichtsammlung „Orientales“ (1829) Spanien als Schwelle zwischen Europa und dem Orient, zwischen Inklusion und Exklusion dargestellt hat, begegnet Europa bei Miguel de Unamuno als „das Andere Spaniens“. Reichsideen wie bei Hugo finden sich auch bei Eugeni d’Ors; immer wieder werden das Karolingerreich, das Heilige Römische Reich deutscher Nation oder das Napoleonische Empire als Vorbilder angeführt. Neben solchen, auch auf das Christentum rekurrierenden, häufig nostalgisch motivierten und politisch konservativen Rückgriffen macht Kraume bei ihren Autoren auch einen „humanistisch akzentuierten Sozialismus“ aus, den sie bereits beim späten Victor Hugo der Exiljahre sowie bei René Schickele, Heinrich Mann, André Gide und Klaus Mann erkennt und als explizitere politische Zielrichtung beschreibt. Zusammenfassend stellt sie fest, alle politisch motivierten Auseinandersetzungen mit Europa kämen in einer positiven Utopie überein, die sich gegen die als defizitär wahrgenommene politische Gegenwart richtete: ein durch Imperialismus oder Sozialismus geeintes Europa werde der Realität der Nationalstaaten entgegengestellt.

Ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wendete sich André Gide auf einer Konferenz im österreichischen Pertisau in einer Rede an die europäische Jugend mit der Aufforderung, nicht aufzuhören Fragen zu stellen und in Bewegung zu bleiben, um so zu einem eigenen Ich zu finden und gegen jede Form des Totalitarismus zu opponieren. Auch vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Blockkonfrontation hält Gide an einer Zukunft Europas durch die Individualisierung der Einzelnen fest. Mit den beiden Ortsbezeichnungen Pontigny in Burgund und dem österreichischen Pertisau lässt sich Kraumes Rekonstruktion eines Europas der Literatur in nuce kartieren.

Beide Orte stehen für Zusammenkünfte von Intellektuellen, die zu zwei je spezifischen Zeitpunkten, einmal nach dem Ersten und zum anderen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, für die Vision eines befriedeten und geeinten Europa des Geistes Anhänger zu gewinnen suchen, nachdem zuvor alle Gemeinsamkeiten vor dem Hintergrund von Nationalismus, Krieg und Verfolgung zunichte gemacht worden waren. Kraume gelingt es in ihren kleinteiligen Textanalysen anschaulich, den Zusammenhang zwischen der von ihr untersuchten Europaliteratur, die sie als ein „geistiges Spielfeld“ beschreibt, und den jeweiligen politischen Bedingungen, auf die die Literatur ebenso reagiert wie sie sie mit entwirft, aufzuzeigen. Gerade deshalb vermag ihr Insistieren darauf, „eine spezifisch literarische Form des Sprechens über Europa“ stark „von den politischen, historischen oder soziologischen Diskursen“ unterscheiden zu wollen, nicht so recht zu überzeugen. Kann doch gerade als Verdienst ihrer gelungenen Studie angerechnet werden, dass sie immer wieder Wechselwirkungen zwischen Literatur, Politik und Geschichte aufzeigt.

Titelbild

Anne Kraume: Das Europa der Literatur. Schriftsteller blicken auf den Kontinent 1815-1945.
De Gruyter, Berlin 2010.
397 Seiten, 94,95 EUR.
ISBN-13: 9783110232073

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