Sprachlosigkeit in Zeiten der Schweizer Unruhen
Urs Faes vertraut in seinem neuen Roman „Paarbildung“ auf die Physik
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNach ihrer Krebsdiagnose begibt sich die erfolgreiche Juristin Meret Etter zur Behandlung in eine Spezialklinik, wo sie auf Andreas Lüscher trifft, der dort als Arzt und Psychologe Kranke und Sterbende betreut und begleitet. Sechzehn Jahre zuvor, im April 1993, haben sich die beiden das letzte Mal gesehen und getrennt. Plötzlich und, so scheint es, zufällig – wie auch ihre Begegnung im Krankenhaus für beide überraschend kommt. Ein Liebespaar waren sie seit 1981.
Wie in fast allen Texten des Schweizer Autors Urs Faes umfasst die eigentliche Handlungszeit auch in seinem neuen Roman „Paarbildung“ nur wenige Tage in der Gegenwart der beiden Hauptfiguren. Doch erfährt der Leser durch Rückblenden und Erinnerungsschübe nach und nach auch die Vorgeschichte zweier Menschen – ohne dass ihr Verhalten von damals und zur Zeit der Romanhandlung dadurch verständlicher werden würde. Denn die Rückblenden sind geprägt durch eine stark personalisierte Erzählperspektive. Der Erzähler schaltet sich so gut wie nie mit Kommentaren oder Beschreibungen ein, die über das hinausgehen, was Andreas oder Meret wissen, wahrnehmen und empfinden oder gewusst, wahrgenommen und empfunden haben.
Die frühen Romane von Urs Faes wie „Sommerwende“ (1989), „Alphabet des Abschieds“ (1991) oder „Ombra“ (1997) waren von einer komplexen Erzählstruktur geprägt. Mit seinem letzten Roman „Liebesarchiv“ (2007) ist Faes zu einer übersichtlicheren Erzählweise zurückgekehrt. Seinem Zentralthema der Erinnerung und der Bedeutung, die die Vergangenheit für die Gegenwart einnehmen kann, ist er indessen auch mit „Paarbildung“ treu geblieben. In „Sommerwende“ war es die latente Nazi-Freundlichkeit der Dorfbewohner, die das Leben der Mutter des Ich-Erzählers verändert hat, in Faes’ modernem Internatsroman „Und Ruth“ (2001) um den lange Jahre zurückliegenden Tod eines Freundes stand die Frage, ob es „ein Anrecht auf Vergessen“ gebe, im Mittelpunkt und die Verstrickungen des eigenen Vaters führten dem Ich-Erzähler im letzten Roman „Liebesarchiv“ ein belastendes Generationenerbe vor Augen („Wir tragen die Väterhypothek“).
Im Augenblick ihrer Begegnung im Krankenhaus wird für Meret und Andreas auch die ganze Geschichte ihrer Vergangenheit wieder lebendig, die eng mit den sogenannten Schweizer Jugendunruhen der frühen 1980er-Jahre verbunden ist. Denn zum ersten Mal begegnet sind sich Meret und Andreas im November 1981, als die Demonstrationen gegen die Regierung und die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen und der Polizei in Zürich ihren Höhepunkt erreichten. Anders als die radikale Meret gerät Andreas eher zufällig in die Reihen der Demonstranten. Wie auch in den früheren Romanen zeigt sich auch hier Faes’ Anspruch, problematische Bilder der Schweiz und der Schweizer Geschichte fernab von Almhütten, Steuerparadiesen, Tell- und Demokratielegenden zu literarisieren.
Exemplarisch stehen die mittlerweile in ihren Fünfzigern angekommenen Protagonisten Meret und Andreas auch für eine Generation, die aufbegehren und politisch aktiv sein wollte und aus der später erfolgreiche Ärzte und Juristen hervorgegangen sind. Doch bildet die Zeitgeschichte nur den Hintergrund der Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, deren Beziehung durch Sprachlosigkeit, Verfehlungen und Missverständnisse geprägt ist. Am Ende des Romans, nachdem beide noch einmal mit einem Ausflug an gemeinsame Orte gleichsam auch eine Reise in die Vergangenheit angetreten haben, spricht Meret aus, was als Frage in der Gegenwart über diese Beziehung aus der Vergangenheit geblieben ist: „Warum treffen solche wie du und ich zusammen?“ Warum ist diese Beziehung auseinandergegangen, warum der Kontakt 1993 abgebrochen?
Die Stärke des Romans liegt gerade darin, diese Fragen nicht zu beantworten und auch nicht beantworten zu wollen. Der Leser muss sich mit Andeutungen und nur auf den ersten Blick plausiblen Motiven für Handlungen begnügen, die mit einer schier erdrückenden Lakonie und Melancholie beschrieben werden. War es Andreas’ Drang, in die Welt zu gehen, immer neue Orte zu bereisen oder beruflich anzusteuern? War es seine Blindheit, die Hinweise auf Merets Schwangerschaft nicht bemerkt zu haben oder Merets Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit, ihre Unfähigkeit, sich ihrem Geliebten anzuvertrauen? „Etwas kommt nicht mehr zusammen, ich kann es nicht erklären, sagte sie an jenem Februartag 1991, Ende Februar mußte es gewesen sein, ein Gespräch im Bäderquartier, im Verenahof, das vieles offenließ, ein Tag zwischen Winter und Frühling, föhnwarm und windig, ein Abschied auf dem Bahnhof.“
Das Leben ist seit diesem Abschied weitergegangen, unaufgeregt erinnern sich die beiden, was vor sechzehn Jahren gewesen ist: aber da war kein großer Wendepunkt. Faes versteht es, minimale Erschütterungen anzudeuten, durch die ein Leben aus der Bahn geraten, eine Liebesaffäre scheitern kann. Selbst im Angesicht des drohenden Todes vermag Meret nicht, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden. Von der Außenwelt erfährt niemand, was die Krankheit in ihr bewirkt: „Das Gefühl, nicht mehr ganz im Leben zu sein oder es gar verfehlt zu haben. Man fragt sich, ob das die Krankheit ist, die Erklärung für die Krankheit. Die Fragen sind einfach da, ohne daß man es will.“ Was also ist dieser Roman? Eine Liebesgeschichte ohne Liebende, das Protokoll und Psychogramm einer Krebspatientin und der Veränderungen, die ihre Persönlichkeit durch die Krankheit erfährt?
Vor allem ist der Text ein beklemmendes Kammerstück über die Unmöglichkeit der Liebe, über Annäherungen und Entfremdungen, für die keine Erklärungen gefunden werden können. Darauf spielt auch schon der vieldeutige Titel an. In der Physik versteht man unter Paarbildung einen Prozess, bei dem aus dem Nichts durch Energie, spontan und zufällig – aber doch mit einer berechenbaren Wahrscheinlichkeit je nach Höhe der Energie – Materie entsteht, und zwar immer zwei Teilchen: Materie und Antimaterie. Spontan und zufällig ist die erste Begegnung von Meret und Andreas, spontan und zufällig ist ihr Wiedersehen nach sechzehn Jahren, allerdings unter geänderten Vorzeichen. „Warum treffen solche wie du und ich zusammen?“. Auch die Physik weiß keine Antwort, sie beschreibt nur die Vorgänge. Der konträre Prozess der physikalischen Paarbildung ist ebenso wenig zu erklären, er geschieht einfach: die zwei zuvor entstandenen Teilchen vernichten sich gegenseitig.
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