Das Eigene liegt im Schatten der Monumente

Zur Neuausgabe von Uwe Timms "Römischen Aufzeichnungen

Von Tim HeptnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tim Heptner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Münchner Schriftsteller wirft seine Sammlung aus "all den Ausschnitten, Zetteln, Karteikarten" in den Müll. Er ist entschlossen, jetzt "keine Manuskripte mehr lesen, keine Gutachten mehr schreiben" zu wollen, bricht auf und findet "in der Ferne, in einem braunen, ja goldenen Licht: Rom."

Die Farben auf den Postkarten haben nicht übertrieben. Der autobiografische Erzähler Timm erinnert sich an seine erste Orange. Und so wie der kleine Junge in die bittere Haut der ungewohnten Frucht gebissen hat, weil er nicht wusste, dass sie zuvor geschält werden muss, so entdeckt der erwachsene Mann die römische Umgebung. Neugierig begegnet der deutsche "Edelaussteiger" der Hauptstadt Italiens, er atmet ungewohnte Luft, "schwer und süß wie ein Parfum". Davon lässt er sich jedoch nicht berauschen, sondern lernt den römischen Alltag wahrhaft kennen, bemerkt Arbeitslosigkeit, offene Armut und Verbrechen zwischen den antiken Kirchen, Plätzen und Friedhöfen.

Seine Beobachtungen sind mal komisch, mal leise. Sie verraten Erstaunen darüber, dass sich die Klischees bewahrheiten. Uwe Timm werden Vorurteile bewusst - auch dass er selbst Vorurteile bedient: "Ich sehe mich in den Spiegeln der Geschäfte: ein Tourist, ein Deutscher, der ein Khakihemd trägt [...]. Ich kann mich nicht kleiner und dunkler machen, aber ich werde mir italienische Hemden, Schuhe und Hosen kaufen."

Gerade in den Details findet der römische Neubürger Bedeutsames. So wird er auf die Eigenheiten italienischer Erotikmagazine aufmerksam, in denen die Playmates "nicht retuschierte Muttermale, Falten, eine kleine Laufmasche am Strumpf" zeigen, beobachtet er junge Priester, die in der Soutane Fußball spielen und verzeichnet in der Bar eine "Choreografie der Espressozubereitung".

Solch anschauliche Szenen wechseln immer wieder mit biografisch reflektierten Passagen. Beispielsweise erinnert die Lebhaftigkeit der Italiener an die väterlichen Versuche, dem Jungen Stillhalten bei Tisch zu lehren: "Was hat das für Kraft gekostet, damals, die Arme ruhig zu halten, die Hände, und gerade darum habe ich - und tue das noch immer - bei Tisch immer wieder Gläser und Tassen umgeworfen." Assoziativ geht Uwe Timm den autobiografischen Spuren nach. Wer hier auf eine geschlossene Rom-Erzählung gehofft hat, den mag der sprunghaft-fragmentarische Text vielleicht enttäuschen.

Dafür profitiert der Leser aber von dem intelligenten Subtext, in dem authentisch das Verhältnis des Eigenen zum Fremden, die Wahrnehmung und ihre literarische Umarbeitung verhandelt werden. Gegen Ende allerdings überfrachtet Timm seine Aufzeichnungen. Zwar entwickelt er im Nachdenken über Gramsci und Caravaggio ein engagiertes politisches und kunsttheoretisches Selbstgespräch

, aber er marginalisiert die nachdenklich stimmenden Ansätze vor seiner unmäßigen Fragestellung: "Wozu leben wir? Wozu leiden wir?" Zugleich zerbricht auch der sensible Zusammenhalt von autobiografischer Erinnerung und unmittelbar beschriebener Gegenwart, der zuvor originell gemeistert wird.

Zur aktuellen Neuausgabe der zuerst 1989 unter dem Titel "Vogel, friss die Feige nicht" erschienenen Römischen Aufzeichnungen hat Uwe Timm eigens ein Nachwort verfasst. Hier erklärt er seinen Romaufenthalt 1981 bis 1983 auch als "Flucht aus der dogmatischen Enge der marxistischen Diskussion". Und er betont die Stadt als Erfahrungsort, wo "man das eigene Bewusstsein betreten kann, nicht museal, sondern urban belebt".

Wer solch eine Erfahrung machen möchte, dem seien die "Römischen Aufzeichnungen" sehr empfohlen.

Titelbild

Uwe Timm: Römische Aufzeichnungen.
dtv Verlag, München 2000.
192 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 342312766X

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