W. G. Sebald in Australien

Ein Tagungsband zu „W. G. Sebald. Schreiben ex patria / Expatriate Writing“

Von Nikolai PreuschoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolai Preuschoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir erkennen unsere Vergangenheit besser im Ritterkreuzträger als im deutschen Emigranten“, diagnostizierten Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 in „Die Unfähigkeit zu trauern“. Der Schriftsteller Winfried Georg Sebald, 1992 international bekannt geworden mit den „Ausgewanderten“, suchte die deutsche Vergangenheit eben dort, ‚im deutschen Emigranten‘. Von England aus, wohin Sebald 1966 auswanderte, kreist sein in etwas mehr als zehn Jahren vor seinem Tod am 14. Dezember 2001 erschienenes literarisches Werk um die Fragen von Schuld und Verdrängung im Nachkriegsdeutschland und anderen Trümmerstätten der Moderne. Bekanntermaßen hat Sebald auch formal mit den Möglichkeiten des Grenzübertritts experimentiert: Zu den Besonderheiten seiner Texte zählt die Verbindung von Text und Bild, Biografie, Autobiografie und Fiktion, Literatur und Geschichte. Inwieweit aber ist nun der geografische, kulturelle Grenzübertritt des Autors selbst, das Schreiben außerhalb der Heimat für das Verständnis seines Werks bedeutsam?

Diese Frage wirft der vorliegende Tagungsband bereits mit dem Titel auf, dessen deutsch-englische Mehrsprachigkeit – „Schreiben ex patria / Expatriate Writing“ – das Thema des Auswanderns und der Grenzüberschreitung vorführt. Die Beiträge der 2006 im Sydneyer Goethe-Institut veranstalteten Tagung sind dabei natürlich selbst über britische, irische, italienische, U.S.-amerikanische, südafrikanische und eben australische Grenzen hinweg geschrieben. In seinen einleitenden Beiträgen „W. G. Sebald’s Expatriate Experience and His Literary Beginnings“ und „Schreiben ex partia: W. G. Sebald und die Konstruktion einer literarischen Identität“ verweist der australische Germanist und Herausgeber Gerhard Fischer ( University of New South Wales) auf das vergleichsweise ungewöhnliche Phänomen eines außerhalb der Heimat schreibenden deutschsprachigen Autors. Anschließend verweist er auf die Bedeutung des ‚Heimat‘-Begriffs in Sebalds Werk und das reziproke Verhältnis, in dem sich dieser auswirkt.

So zeige sich in Sebalds poetischem Werk immer wieder sowohl die Konstruktion wie auch die Destruktion des hybriden deutschen Erzähler-Ichs. Die neue Heimat wird erkundet und aus der gewonnenen „Doppelperspektive“ heraus Historisches, sowie Kulturelles grenzübergreifend kontextualisiert. Dabei richte sich der fremd-vertraute Blick des „expatriates“, so Fischer, immer wieder auf die zurückgelassene Identität und die deutsche Vergangenheit, die sich möglicherweise so erst erfassen lässt: In der Erfahrung ihres Außerhalbs und dem Verlauf ihrer Grenzen. So kommt Sebald, wie Fischer betont, erst außerhalb Deutschlands sowohl mit Überlebenden der Shoah in Kontakt als auch mit der „lebendigen Präsenz einer jüdischen community“.

Eben dies ist dem Autor – wie er selbst betont – während seiner Jugend in Süddeutschland nicht möglich gewesen; die überlebenden Zeugen waren ausgewandert, und die Erinnerungen der nichtjüdischen Deutschen an ihre früheren Nachbarn waren so ‚verlegt‘ wie die Schlüssel zum Jüdischen Friedhof im Bürgermeisteramt von Kissingen. Das ‚Gespräch‘ zwischen dem Expatriierten und den aus der Heimat geflohenen Exilierten bildet somit einen wichtigen Ausgangspunkt von Sebalds Texten. Dennoch markiert dieser Ausgangspunkt zugleich eine Grenze, die zwischen Exil (in das niemand aus freier Entscheidung geht) und Nicht-Exil verläuft, und die – so hebt Martin Klebes in seinem Beitrag „No Exile“ hervor – auch ein Autor wie Sebald nicht übertreten kann.

Um den Topos der Grenze und des Grenzübertritts sind die 28 Beiträge des Bandes angeordnet. Bereits die Sektions-Titel machen allerdings deutlich, dass der Begriff der ‚Grenze‘ nur im ersten Teil im engeren Sinne geografisch/kulturell verstanden wird und im folgenden – gewissermaßen selbst transitär – als historische, mediale, sowie narrative Metapher variiert und damit auch aufgeweicht wird: 1. „Territorial Strategies“, 2. „Memory and History“, 3. „Philosophical and Narrative Strategies“, 4. „Intermedial and Literary-Critical Strategies“ und 5. „Intertextual Strategies“. Deutlich wird zudem, dass ‚Grenze‘ hier mehr als ein Verbindendes – als Ort der Erfahrung von Alterität, als Gebiet des Übergangs, des Austauschs, der Intermedialität – denn Teilendes verstanden wird. Gerade zu diesem exklusiven Charakter der Grenze hätte man sich in Hinblick auf Sebalds Werk möglicherweise noch eine intensivere Untersuchung wünschen können.

Judith Ryan und Peter Morgan gehen in ihren Beiträgen auf die Schnittstelle von Natur und Geschichte ein. Ryan betrachtet in „Lines of Flight‘: History and Territory in The Rings of Saturn“ Sebalds englische Landschaften als Spiegel der Historie und als resignatives „Palimpsest“ insbesondere der Deutschen, das sich unter dem Blick des Wallfahrers entfaltet. Morgan zeigt, dass Sebalds Luftkrieg-Essay eine bereits in der Prosa erprobte Perspektive einnimmt: eine Perspektive, die sich kritisch auf die nachkriegsdeutsche Leistungsgesellschaft richtet, deren Effizienz offenbar nur über die Verdrängung der jüngsten Vergangenheit zu haben war. Morgan zeichnet dabei (mit Rückgriff auf Wolf Lepenies) das Psychogramm eines von der Vergangenheit überwältigten und ‚beschädigten‘ Autors, der die Heimat ‚abwehren‘ müsse und daher die Identifikation mit heimatlosen Wanderern und Exilierten sucht. Ebenso weist Morgan auf die Leerstellen des Luftkrieg-Essays hin und fragt mit Andreas Huyssen angesichts der auffallenden Schärfe ihrer Angriffe nach dem Grund und dem ‚Einsatz‘ dieser Streitschrift.

J. J. Long stellt in seinem Beitrag Sebalds „ambulantes Narrativ“ und seine „Poetik der Abschweifung“ am Beispiel der „Ringe des Saturn“ als eine Reaktion auf die andauernde Moderne dar. Ihre exponentielle Effizienzsteigerung, wie sie sich etwa in der Beschleunigung des Reisens zeigt, spiegele sich auch in den zeitgenössischen Narrationen wider. Das in Sebalds Texten thematisierte langsame Reisen wie auch die mäandernde Bewegungen seiner Erzählung lassen sich so als der Moderne und ihrer sich beschleunigenden Erzählkultur widerstrebend lesen. Longs Argumentation ähnelt dabei derjenigen Klaus Scherpes, dessen Beitrag „Auszeit des Erzählens – W. G. Sebalds Poetik der Beschreibung“ allerdings bereits vor zwei Jahren in den „Weimarer Beiträgen“ erschienen ist. Scherpe verfolgt die These, dass die für Sebalds Prosa charakteristischen langen, deskriptiven Passagen das Ziel haben, die Zeit zu entschleunigen und biedermeierlich, aber – wie Sebald sagen würde – doch jenseits von Quietismus und Eskapismus beharrlich ‚auszuruhen‘. Sebalds Projekt, so Scherpe, sei eine Literatur der kleinen Form, die die historische Zeit in den privaten Raum, die epische Welt in das Format der Anekdote verfrachtet – und damit, nach zwei Weltkriegen und der Shoah, dem Wunsch des „Innehaltens“ und der „Einkehr bei sich selber“ Ausdruck verleihe.

Zwischen Geschichte und ihrer Fiktionalisierung bewegt sich James Cowans Beitrag, der in seiner Quellenstudie zu Sebalds „Austerlitz“ anhand detaillierter Textauszügen rekonstruiert, was Sebald für seinen Roman an historischem Material über das Territorium um den Gare d’Austerlitz zusammengetragen hat oder haben könnte. Cowan weist dabei ebenso auf die Publikation „Des camps dans Paris: Austerlitz, Lévitan, Bassano, juillet 1943 – auout 1944“ von Jean-Marc Dreyfus und Sarah Gensburger hin, die bemerkenswerterweise 2003, fast zeitgleich mit der französischen Übersetzung von „Austerlitz“ erschien – ein Beleg für Sebalds historisches Gespür.

Mit Gay Hawkins und Ben Hutchinson gehen zwei Beiträger auf die wichtige, nach wie vor aber wenig untersuchte Beziehung Sebalds zu Walter Benjamin ein. Während Hawkins die Verbindung von „transience and detritus“ in beiden Werken verfolgt, die insofern eine paradoxale ist, als ‚Abfälle‘ sowohl als bleibende ‚Altlasten‘ verstanden werden können wie auch als etwas, das zu vergehen droht und daher ‚gerettet‘ werden muss, wählt Hutchinson einen produktionsästhetischen Ansatz, der Sebalds Benjamin-Lektüre nachzuzeichnen versucht. Im einzelnen geht Hutchinson dabei von Sebalds Anstreichungen und Markierungen in Benjamins Erzähler-Aufsatz aus und richtet seine Überlegungen dahingehend, der häufig bloß behaupteten Benjamin-Nähe Sebalds so einen „theoretischen Rahmen“ zu geben. Dies überzeugt vor allem in Hinblick auf die Herausarbeitung des Prinzips der „Montage“ wie des Begriffs der Naturgeschichte als zentral für Sebalds Poetik.

Ein furioser Beitrag Michael Macks versucht Sebald „Between Elias Canetti and Jacques Derrida“ zu verorten. Mack weist mit einer Untersuchung von Satire und Ironie in Sebalds Werk ferner auf einen bislang wenig beachteten Aspekt der Sebald’schen Poetik hin. So komme eine „satirische Qualität“ den Texten beider Autoren, Canetti wie Sebald, zu, und zwar aufgrund der „polyphonen Struktur von Genres und Disziplinen“ in ihrem Werk. Ausgehend von der Satire Canettis und seinen literarischen Techniken des Schocks schlägt Mack vor, Sebalds radikale, identifikatorische Empathie mit den Opfern der Geschichte als bewusst eingesetztes Mittel der ‚Verstörung‘ zu werten, deren Polyphonie insofern – und ausgehend von Derridas Begriff der „Autoimmunität“ – eine ‚satirische‘ sei, als sie die Autonomie des schreibenden Subjekts kompromittiere.

Abschließend sei noch auf den dreisprachigen Beitrag von Richard Bales’ (1946-2007) hingewiesen, „Homeland and Displacement: The Status of the Text in Sebald and Proust“, dessen Untersuchung von Parallelen bei Sebald und Proust mit einigen genauen Beobachtungen überzeugt: von der Figur des „double narrator“ bei Marcel Proust wie Sebald, des Schwindelgefühls, das diesen bei beiden Autoren ergreift, der Schlüsselfunktion der Architektur, über die Thematisierung des Herstellungsprozesses des Textes bis hin zur grammatikalischen Handhabung von Zeitformen in der „Recherche“ und „Austerlitz“. Zudem erinnert Bales daran, dass sich an Prousts Werk die ersten ‚Intertextualitäts‘-Debatten entzündenten, lange bevor dieser nun eng mit Sebald verbundene Begriff geprägt wurde, sowie daran, dass in beiden Werken diese Kunstgriffe die Figuren spalten, suchend und in Bewegung halten und dass aus dem biografisch-fiktionalen Werk beider Autoren so schließlich eigenständige ‚Realitäten‘ entstünden.

Das Erscheinungsdatum des Bandes Nr. 72 der „Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik“ mag in Anbetracht der nach wie vor regen Sebald-Forschung spät erscheinen, ist aber für einen Tagungsband dieses Umfangs sicher nichts Ungewöhnliches. Dabei ist der Materialreichtum zu seinen Stärken zu zählen. Weniger gehört es dagegen zum Anliegen, in der Forschungslandschaft Übersicht oder Orientierungshilfe zu geben. Natürlich ist kein Tagungsband vollständig, dennoch hätte man sich angesichts des Themas noch einen Beitrag zu Unterschieden von Original und Übersetzungen gewünscht und angesichts des „patria“ im Titel hätte sich ebenso eine genderspezifische Fragestellung angeboten. Insgesamt zeichnet sich der – für die Preislage erwartbar – sorgfältig hergestellte und gebundene Band auch durch editorische Sorgfalt aus. So sind den zweisprachigen Beiträgen jeweils englischsprachige abstracts vorangestellt; sämtlichen Zitaten aus englischsprachigen Sebald-Ausgaben folgt das deutschsprachige Original. Nur wenige Fehler fallen auf (zum Beispiel in einem Zitat auf Seite 404 „eingehen zu ihnen“ statt richtig „einzugehen zu ihnen“, Seite 32 „Ambros Edelwarth“ statt „Adelwarth“, Seite 59 „Granville“ statt „Grandville“ oder auf Seite 492 „Hebbel“ statt des gemeinten Johann Peter „Hebel“). Sehr bedauerlich ist hingegen das Fehlen eines Literaturverzeichnisses und vor allem eines Indexes, der sich bei diesem gut 500 Seiten starken Band angeboten hätte. Unterm Strich liegt der internationalen Sebald-Forschung nun eine umfangreiche wie vielseitige Aufsatzsammlung vor, die zudem mit starken Einzeluntersuchungen zu überzeugen vermag.

Titelbild

Gerhard Fischer (Hg.): W.G. Sebald. Schreiben ex patria / Expatriate Writing.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2010.
526 Seiten, 105,00 EUR.
ISBN-13: 9789042027817

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