Die Dämonen der Elite

Natsuo Kirino schreibt mit dem Roman „Grotesk“ einen literarischen Kommentar zur psychosozialen Lage in Japan

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ohne Müdigkeit, ohne Schmerz: Leben in der Spätmoderne

Dass die Lebensbedingungen für das „Humankapital“ in den Leistungsgesellschaften des 21. Jahrhunderts auf einem neuen Tiefpunkt angekommen sein dürften, weiß die Philosophie der Schmerzlosigkeit und die der Müdigkeitsmeidung. Der Philosoph und Bioethiker Masahiro Morioka hat 2003 mit „Painless Civilisation“ das Konzept einer schmerzverleugnenden japanischen Gegenwart entworfen; der Karlsruher Denker Byong-Chul Han erklärt 2010 den Menschen der Spätmoderne, sie alle, nicht nur die am Rande der Gesellschaft, würden aller Gewissheiten entkleidet und aufs nackte Leben reduziert. Als die Opfer dieser Ära besäßen sie die perfide Besonderheit, nicht tötbar zu sein. Sie seien deshalb „Untote“. Während heute also nur die bloße Existenz selbst noch heilig sei, reagiere man mit Hyperaktivität auf diese Daseinsumstände, mit der Hysterie der Arbeit und der der Produktion. In einer „Zwangsgesellschaft“ wie der beschriebenen, so Han, führe jeder als ein sich selbst ausbeutendes Leistungssubjekt sein Arbeitslager mit sich. Ohne die Fähigkeit innezuhalten, sich seine Müdigkeit einzugestehen, bewege man sich hektisch weiter im Laufrad und leide bald an den charakteristischen Krankheiten der spätmodernen Arbeitsgesellschaft, Neurose und Depression.

Gleichsam als literarische Simulation einer Psychopathologie der japanischen Spätmoderne kann Natsuo Kirinos Roman „Grotesk“ gelesen werden. Die Autorin, die bei westlichen Lesern vor allem mit „OUT“, ihrer Krimivariante über mordende Hausfrauen, bekannt wurde, erzählt in dem im Original 2003 veröffentlichten Buch über die in der Elitensozialisation angelegte Entmenschlichung. Kirinos Monster sind Untote, wie sie die „Müdigkeitsgesellschaft“ sieht, mit dem Unterschied, dass Kirino ihre Geschöpfe erlöst, das heißt sie ihren Tod finden lässt.

Herkunft, Hackordnung und die Hoffnung auf Erfolg

Vier Frauen in einem Purgatorium, das schon in der Schulzeit beginnt: Die boshafte spätere Erzählerin, die sich selbst überschätzt, ihre schöne Schwester Yuriko Hirata, die ehrgeizige Kazue Sato und die begabte Klassenbeste Mitsuru, der es gelingt, an der renommierten Universität Tokyo Medizin zu studieren. Yuriko und ihre Schwester haben einen ungewöhnlichen familiären Hintergrund, der Vater ist Schweizer polnischer Abstammung, die Mutter Japanerin aus einer „schlechten“ Familie. Kazue kommt aus dem wohlhabenden Elternhaus eines japanischen Firmenangestellten. Die Atmosphäre bei den Satos ist unterkühlt. Eine Rangordnung bestimmt die Interaktionen, der Vater erweist sich als unangenehmer und geiziger Tyrann. Bei den Hiratas herrscht ebenfalls eine bedrückende Stimmung. Die Eltern stehen sich nicht allzu nah, die beiden ungleichen Schwestern konkurrieren miteinander.

Wie viel Aufmerksamkeit man vom Familienoberhaupt bekommt, welcher Tätigkeit die Eltern nachgehen, aus welchem Milieu man stammt, welchen finanziellen Hintergrund und welche Talente man vorzuweisen hat, macht den Wert der eigenen Person aus. Eine Dauerrivalität beherrscht das Leben. Freunde sind nur schwer zu finden. Unablässig vergleichen sich die Protagonistinnen mit ihrem Gegenüber. Sie wollen es übertrumpfen, in der Hoffnung, endlich unangefochten die Beste zu sein. Mit dem Sieg durch Schönheit oder Intelligenz ist auch der geheime Wunsch nach Anerkennung durch den Vater und generell durch das Männliche verbunden. Eliteerziehung im gegenwärtigen Japan meint die Idealisierung der von Männern geprägten Arbeitskultur und die Indoktrination mit dem Versprechen von Leistung und Erfolg: Strenge Dich nur an, dann erreichst Du Dein Ziel. Doch nicht jede hält dem Druck stand, und ob das Glück am Ende mancher Aufstiegsbemühung steht, ist fraglich.

„Grotesk“ ist angelehnt an den sogenannten Tokyo Electric Company-Office Lady-Zwischenfall (Tôden OL jiken) von 1997: Yasuko Watanabe (39), eine Karrierefrau, betätigte sich neben ihrem hoch angesehenen Beruf als Prostituierte. Sie wurde tot in einem schäbigen Apartment aufgefunden; als mutmaßlichen Täter identifizierte man einen nepalesischen Restaurantgehilfen. Gemäß dieser Vorlage beschreibt der Text, wie ambitionierte Schülerinnen ihren Weg bis zum völligen Zusammenbruch gehen. Nichts ist wichtiger, als Nummer eins zu werden. Man unterwirft sich den Regeln des Sozialdarwinismus in einer unbarmherzigen Klassengesellschaft. Auch Frauen übernehmen schon in der Kindheit die Muster des paternalistischen Regimes, wobei sie im Laufe ihres Bestrebens, ohne Rücksicht alle Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, erkennen müssen, dass ihr Kampf von Anfang an aussichtslos war – als Angehörige des weiblichen Geschlechts hatten sie nie eine Chance.

Da sie trotz immenser Anstrengungen in den Hierarchien des Patriarchats kaum heimisch werden können, verfallen sie in Selbsttäuschung, Depression und Wahn. Die Prostitution ist eine Kompensationsstrategie für die Verachtung, die die Frauen im System erfahren, eine Maßnahme, die es ihnen erlaubt, gleichermaßen Verachtung zu bezeugen, wie sie auch eine Möglichkeit darstellt, dem männlichen Körper nahezukommen und menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Der Akt des Sich-Verkaufens verdeutlicht die „groteske“ Deformierung der Psyche, die die Protagonistinnen erleiden, im Bestreben ihr Leben zwischen hochfliegender Ambition und ernüchternder gesellschaftlicher Realität auszubalancieren.

„Die Feindschaft von Spermium und Ei“: Dokumentation eines Geschlechterkampfs

Wie immer hat Natsuo Kirino viel von der Feindschaft zwischen Frau und Mann zu berichten. Eine abgrundtiefe Feindschaft, die uralt ist, biologisch angelegt zu sein scheint und von der Unlust des Lebens kündet, (menschliches) Leben zu sein: „Aber was ist, wenn sich Spermium und Ei bei der Vereinigung feindlich gesinnt sind?“ Durch Abneigung scheint schon die Beziehung zwischen der japanischen Mutter und dem polnisch-schweizerischen Vater der Hirata-Schwestern gekennzeichnet; aus Frustration begeht die Mutter in der Schweiz Selbstmord.

Männer unterschätzen, beleidigen, demütigen und vernichten Frauen. Das erlebt die Erzählerin an ihrem Arbeitsplatz in der Bezirksverwaltung. Ein Kollege von der Gesundheitsbehörde konfrontiert sie mit der unbedachten Aussage, sie sei wohl nur äußerlich sauber und adrett, innerlich aber „regelrecht versaut“. Sexistische Projektionen dieser Art bedingen den Männerhass der jüngeren Schwester, die nicht an Heirat denken will und stolz darauf verweist, eine ungebundene Teilzeitangestellte zu sein.

Unfähig zur Liebe ist auch Kazue, die der Office Lady Yasuko Watanabe nachempfunden ist, und der die Karriere zunächst gelingt. Sie arbeitet als stellvertretende Büroleiterin in einem Großbauunternehmen, leidet aber an Einsamkeit. Kazue möchte ihren Selbstwert bestätigen, als „Königin des Sex“ und als Frau, zu der „ein Mann gut ist“. Sehnsucht bleibt trotz der Sentenz: „Ich hasste die Männer. Aber ich liebte den Sex“.

Selbst die Erzählerin, die bislang völlig sexlos lebte, schlägt am Schluss des Texts den Weg der Prostitution ein, nimmt sich vor, sich zu verwandeln, auf ein „Meer des Hasses zuzusteuern“ und, den Blick auf das „ferne Ufer“ gerichtet, in ein Nichts „hinunterzustürzen“. Indem auch sie nach Kirino-Manier den Weg „nach unten“ wählt und ihre Sehnsucht nach Nähe in Todessehnsucht umschlägt, lädt sie den Mörder ein.

Das Reich der Neurosen, die Insel des Unglücks: Literarisches Japan-Bashing

Nach „OUT“ und „Teufelskind“ bietet „Grotesk“ für den deutschen Leserkreis einen dritten Einblick in ein seelisch prekäres Japan. „Wir haben uns von einer Illusion das Herz aus dem Leib reißen lassen“, subsummiert Mitsuru am Ende des Romans. Die Ärztin hatte sich auf ihrer Sinnsuche einer radikalen neureligiösen Vereinigung – gemeint ist die AUM Sekte, die 1995 den Saringas-Anschlag in Tôkyô verübte – angeschlossen und wurde dafür inhaftiert. Zweifel an der japanischen Elitesozialisation, die „Hass und Verwirrung“ hervorbringe, werden von einem ehemaligen Lehrer der Frauen formuliert: „Wir auf der Q-Schule folgten einem erzieherischen Grundsatz, der es uns gebot, unsere Schülerinnen zu Unabhängigkeit und einem ausgeprägten Bewusstsein ihrer selbst zu führen. Gleichwohl gibt es Daten, die beweisen, dass die Rate der Scheidungen, Ehelosigkeit und Selbstmorde unter den Absolventinnen der Q-Oberschule viel höher ist als bei anderen Schulen. Wie kommt es, dass Mädchen von so privilegierter Herkunft, die so stolz auf ihre akademischen Erfolge sind, so ausgezeichnete Schülerinnen – dass sie so viel öfter unglücklich werden als Schülerinnen anderswo?“

Dem Versprechen von Aufstieg und Erfolg sind jedoch nicht nur die Mädchen erlegen. Die Männer müssen sich ebenfalls die Schattenseiten einer Existenz eingestehen, die ganz den kapitalistischen Gesetzen unterworfen ist. Ein angehender Pensionär verkündet, künftig keine Prostituierten mehr aufsuchen zu wollen, da er mit dem Ende seiner Unternehmenstätigkeit der Welt der Männerarbeit und der ihr zwingend zugehörigen Prostitution den Rücken kehren werde.

Japan ist nach Kirino ein Reich der Neurosen. Die trostlosen Lebensbedingungen dort ähneln einem Feldversuch, den gewissenlose, gierige Wissenschaftler in Gang setzten. Das „Eingesperrtsein in der immer gleichen sozialen Gemeinschaft“ treibe die Angehörigen der Elite in die Paranoia. Die Enge gilt jedoch für die ganze Insel. Als Allegorie gelesen, beabsichtigt das Tableau einen Kommentar auf die nationalpädagogische Attitude der japanischen Nachkriegsgesellschaft, in der die alten Lenker eine „europäisch“ erzogene Oberschicht Japan in den globalen Wirtschaftkampf kommandierte; in diesem Kampf quälen sich die Menschen ab – wie die Geisterpiraten auf der „Black Pearl“, untote Leistungsträger der „Nippon Connection“, die keine Ruhe finden können und ihre Schmerzen konsequent ignorieren. Entlehnt ist die Metapher des Feldversuchs von Kirinos geistigem Mentor in Sachen Japanhass, Murakami Ryû, der dieses Bild im Roman „In der Misosuppe“ einführt.

Erwartungen an einen Kriminalroman erfüllt „Grotesk“ nicht. Kirinos Genremix arbeitet mit Elementen des hard boiled, des Tagebuch- und Bildungsromans, der Kolportage, der Light Novel, des Yellow Trash sowie der „Prekariatsliteratur“ und ihrer Abstiegsdramatik. In der deutschen Version, die der englischen Übersetzung folgt, bleibt dem Leser übrigens die letzte Härte erspart. Nur die Japaner kommen in den „Genuss“ des dritten Mordes. Hier sind offensichtlich auch die Verleger harte Burschen und die lesende Öffentlichkeit erkennt die Perversionen ihrer Gesellschaft an.

Titelbild

Natsuo Kirino: Grotesk. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt.
Goldmann Verlag, München 2010.
638 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783442301300

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