Das entstellte Nachleben der Religion

Neue Studien zu Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung

Von David WachterRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Wachter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erlöst, vollendet, schafft.“ Mit diesen Worten beginnt Walter Benjamins „Theologisch-politisches Fragment“, das vermutlich 1920/21 entstand. Es kreist um das Denkbild zweier Pfeile, die – obwohl in gegensätzliche Richtungen weisend – einander wechselseitig befördern: die „Dynamis des Profanen“ und die „messianische Intensität“. Denn für Benjamin schließen sich das Profane und das Heilige weder gegenseitig aus, noch fallen sie zusammen. Vielmehr begreift er ihr Verhältnis als eine dynamische Spannung. Mit einer Vielzahl von Motiven artikulieren Texte wie „Goethes Wahlverwandtschaften“ oder „Karl Kraus“ das theologische Erbe einer Zeit, in der die Religion – fern davon, durch vollständige Säkularisierung obsolet geworden zu sein – in entstellter Form nachlebt.

Dieser theologischen Signatur der Moderne widmet sich seit einigen Jahren ein Forschungsprojekt am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Aus diesem Umfeld sind zwei neuere Arbeiten erschienen: Sigrid Weigels Monografie „Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder“ (2008) und der von Daniel Weidner herausgegebene Sammelband „Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung“ (2010). Unter einer „Dialektik der Säkularisierung“ – so lautete auch der Titel des Forschungsprojekts – wird hier die verborgene und zugleich deformierte Präsenz jenes Religiösen verstanden, das beim viel beschworenen „Tod Gottes“ im ausgehenden 19. Jahrhundert zu verschwinden schien und auch von den philologischen und kulturwissenschaftlichen Trends der letzten Jahrzehnte vergessen, wenn nicht aktiv verdrängt worden ist.

Die Wiederkehr dieses Vergessenen steht in der Perspektive Weigels und Weidners für einen von Benjamin inspirierten „religious turn“ in der derzeitigen Literatur- und Kulturwissenschaft. Benjamins kaum systematische, eher verstreute und heterogene Einwürfe begreifen sie als eine Arbeit an Konstellationen von Religion und Moderne, die sich der falschen Alternative „Säkularisierung versus religiöse Erneuerung“ entziehen. Sie übernehmen damit Benjamins Abgrenzung in zwei Richtungen: gegen Kunstreligion einerseits, gegen politische Theologie andererseits.

Bekanntlich schrieben Friedrich Gundolf und andere Trabanten des George-Kreises der Dichtung offensiv eine kultische Funktion zu und versuchten im göttlichen Mandat des Dichters die Moderne zu remythisieren. Carl Schmitt dagegen begriff die politische Souveränität der Neuzeit als restlose Übertragung von theologischen Denkstrukturen auf den Bereich des Politischen. Diese Tendenzen deuten Weigel und Weidner als komplementäre Defizite, in denen die für die Moderne charakteristische Spannung zwischen Säkularisierung und religiösem Erbe verstellt werde. Demgegenüber erscheint Benjamins Denken mit seinen rätselhaften Figuren und dialektischen Motiven als „nach-biblisch“ (Weigel): Die Aufmerksamkeit der hier besprochenen Bände gilt seinen Konstellationen der Schwelle und den in ihnen zutage tretenden Figurationen der Ungleichzeitigkeit.

„Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht“ – unter diesem Titel diskutiert der erste Teil von Sigrid Weigels neuer Arbeit das Verhältnis von säkularen und messianischen Aspekten besonders in Benjamins Überlegungen zu Karl Kraus, zum Barock und zur „Kritik der Gewalt“. Für seinen dialektischen Blick zeugt aus Sicht Weigels besonders die Spannung zwischen dem Heiligen und der Kreatur: Impliziert das Heilige eine über-natürliche Dimension des Lebens, so zeugt die Kreatur für einen Bedeutungsentzug. Sie stehe in Benjamins topografischem Denken für die Entfernung von Schöpfung und Offenbarung, verweise aber zugleich im Modus der Entstellung auf die ihr entzogene Ebene des Sakralen. Diesen Bedeutungsverlust entdeckt Weigel ebenfalls im Motiv einer Reduktion von Geschichte auf Natur in den Allegorie-Passagen des Trauerspielbuchs sowie in Benjamins sprachphilosophischen Entwürfen. An diese Überlegung schließt sich ihre Auseinandersetzung mit der politischen Theologie an. Bei Carl Schmitt, in seiner Nachfolge auch bei Giorgio Agamben und in den Debatten zum „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 sieht Weigel das prekäre Fortleben der Religion in der modernen Politik ausgeklammert. In fataler Weise bleibe die politische Theologie auf die Herrschaftsstruktur der Souveränität fixiert und sei daher unfähig, die „heilige“ Besetzung des Politischen in der Figur des Selbstmordattentäters – der aktuellen Variante des Märtyrers – zu denken. Benjamin dagegen habe gezeigt, wie politische und juristische Ordnung auf vor- und außerrechtliche Begriffe, besonders solche theologischer Provenienz, verwiesen bleiben.

Im Anschluss daran diskutiert der zweite Teil von Weigels Monografie die Idee der Dichtung als einer Einbruchsstelle theologischer Bedeutungen inmitten der Moderne. Ihre Lektüren von Benjamins Essays zu Johann Wolfgang Goethe, Bertolt Brecht und Franz Kafka argumentieren überzeugend, dass Benjamin die Dichtung keineswegs zur quasi-religiösen Ersatzbefriedigung und Projektionsfläche für Erneuerungsbedürfnisse überhöht, sondern im Gegenteil als einen „inversen Messianismus“ begreift, der sich im Akzent auf das Fortwirken theologischer Motive zugleich einer unausweichlichen „Erkrankung der Tradition“ bewusst ist. Nicht als Ort der Therapie von Sinnschäden fungiert die Kunst bei Benjamin, so das Ergebnis, sondern als ein Asyl für theologische Gehalte „in ihrer äußersten Gefährdung“.

Der letzte Teil der Arbeit – „Aus der Mitte seiner Bilderwelt“ – verlässt dann das engere Feld einer „Dialektik der Säkularisierung“ und schlägt den Bogen zu Benjamins Bildästhetik in einem weiteren Horizont. Ausgehend von der Überlegung, dass die Bildlichkeit von Benjamins Denken in vielen englischsprachigen Übersetzungen terminologisch reduziert werde, untersucht Weigel hier den unterbrochenen Kontakt Benjamins zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, widmet sich der Bedeutung individueller Kunstwerke für Benjamins Epistemologie, und diskutiert zuletzt die Ästhetik des Details im Umfeld des Kunstwerkaufsatzes.

Mit ihrer neuen Monografie ist Sigrid Weigel ein brillanter Parcours durch Benjamins Bildwelt gelungen. Kulturwissenschaftliches Interesse verbindet sich mit philologischer Akribie; in präzisen Lektüren bekommt sie die Vernetzung und Verschiebung von Motiven in so heterogenen Texten wie „Zur Kritik der Gewalt“ oder „Franz Kafka“ in den Blick. Zwar führt die enge Orientierung an den Texten gelegentlich dazu, dass Begriffe wie „Schöpfung und Weltgericht“ auch nach der Lektüre von Weigels Arbeit so dunkel bleiben, wie sie es bei Benjamin waren. Doch über weite Strecken gelingt ihr das Kunststück, Benjamins Denken zum theologischen Erbe der Moderne in seiner Konzentration auf Figuren und Bilder ernst zu nehmen und doch einen analytischen Zugang zu finden, welcher die Rhetorik seiner Texte nicht einfach übernimmt. Die Kapitel des Schlussteils indes verlieren stellenweise den Kontakt zum eigentlichen Thema des Buches. Von der dialektischen Beziehung zwischen Theologie und säkularer Moderne ist hier nur noch en passant die Rede; wenn auch in sich gelungen, ist der Beitrag dieser Kapitel zum eigentlichen Thema der Arbeit nur bedingt zu erkennen.

Ein solcher Balanceakt zwischen philologischem Textbezug und kulturwissenschaftlichem Horizont ist ebenfalls an den Beiträgen des von Daniel Weidner herausgegebenen Sammelbandes „Profanes Leben“ zu beobachten. Im Nachgang zu einer entsprechenden Konferenz am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin aus dem Jahr 2006 behandelt der Band das entstellte Nachleben der Religion bei Benjamin. Aus einer Vielzahl disziplinärer Perspektiven unternehmen die Beiträge ausführliche Lektüren einzelner Texte oder stellen Beziehungen zu anderen Denkern des Religiösen in der Moderne – von Karl Barths „dialektischer Theologie“ bis zu Agambens „Homo sacer“ – her. Im Anschluss an eine längere Einleitung des Herausgebers diskutiert der erste (und auch gelungenste) Teil komplementäre „Figuren der Säkularisierung“. Aus einander ergänzenden Zugängen wird hier deutlich, dass Benjamins Denken kein Projekt der „Wiederverzauberung“ verfolgt, sondern die Religion als Ort des Eingriffs in die säkulare Welt der Moderne deutet. Die thematische Bandbreite reicht von gegenläufigen Konzepten des Messianischen im „Theologisch-politischen Fragment“ über die Ambivalenz des Kreatürlichen im Barock bis hin zur Transformation der christlichen Kontemplation in den Skizzen einer zwischen Konzentration und Zerstreuung changierenden Wahrnehmung, die Benjamins Medientheorie im Kunstwerksaufsatz konturiert.

Unter der Überschrift „Topographien des Sakralen“ diskutieren sodann die Beiträge des zweiten Teils Benjamins Denken anhand konkreter Orte, etwa der Trias Moskau-Berlin-Jerusalem, sowie die räumliche Gestaltung des Mahnmals im spanischen Port Bou zur Erinnerung an Benjamins Exil und Selbstmord. Am Leitfaden einer – durch häufige Wiederholung allerdings etwas penetranten – „Kritik der politischen Theologie“ distanzieren sich daraufhin die Beiträge des dritten Abschnitts von den Versuchen Agambens und anderer zeitgenössischer Theoretiker, Benjamins „Kritik der Gewalt“ für eine politische Theologie moderner Souveränität zu vereinnahmen. So wird in Vivian Liskas Beitrag deutlich, dass politische Theorie des „Ausnahmezustands“ und Sprachphilosophie der reinen „Unterbrechung“ bei Agamben auseinanderklaffen, und dass Agambens Denken der „erlösenden Umkehr“ Benjamins Figuren des Messianischen um ihre politische Dimension verkürzt. Zuletzt diskutiert die vierte Gruppe von Aufsätzen die Frage, in welchem Maße sich Benjamins theologische Figuren und Motive auf die biblische Sprache und auf den theologischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts beziehen. Themen sind der Begriff der göttlichen Gewalt bei Benjamin im Vergleich zur Bibel, die Bezüge des „Politisch-theologischen Fragments“ zu Julius Wellhausens anarchistischer Theokratie sowie Benjamins und Gershom Scholems Wahrnehmung Karl Barths und der „dialektischen Theologie“.

„Profanes Leben“ erkundet ein weites Spektrum theologischer Motive und Bezüge bei Benjamin und erprobt eine Kombination aus kulturwissenschaftlichem Erkenntnisinteresse und detaillierten Textlektüren. Wie in Weigels Arbeit gelingt diese eindrucksvolle Verbindung auch in den meisten hier versammelten Beiträgen. An einigen Stellen jedoch droht die komplementäre Gefahr einer Übernahme Benjamin’scher Rhetorik einerseits und eines theoretischen Jargons andererseits. Auch die brillantesten Beiträge sind davor nicht gefeit. So wiederholt Elke Dubbels’ überzeugender Aufsatz über Aspekte des Messianischen im „Theologisch-politischen Fragment“ Benjamins Rede von einer „profanen Ordnung“, ohne diesen doch recht vagen Begriff zu präzisieren. Bei anderen Beiträgen entstehen gravierendere Probleme durch allzu modisches Vokabular – Stephan Braeses Untersuchung zu Benjamins Blick auf Berlin, Moskau und Jerusalem verwendet ein ums andere Mal die Wortprägung „das Subjektgeschichtliche“, die einen ganz neuen Zugang eröffnen soll, aber am Ende nicht mehr zum Ausdruck bringt als das Bewusstsein, dass subjektive Erfahrungen stets im Horizont geschichtlicher Umwälzungen stehen. Auf besonders prekäre Weise verbinden sich Mimesis an Benjamin’sches Vokabular und abstrakter Jargon in Nitzan Lebovics Aufsatz über Benjamins „Sumpflogik“: Wiederholt und ohne Erläuterung ist dort von „dem Gesetz“ die Rede, mit dem sich der „biopolitische Denker“ Benjamin (richtig: „Denker der Biopolitik“) auseinandersetze, und von dem es eigenartig sinnfrei heißt: „Es geht mit einem reinen theologischen Schrei schwanger“. Auch ließe sich fragen, inwiefern – entsprechend der Titel der Aufsatz-Gruppen – Benjamins Denken der Kontemplation eine „Figur“ oder sein Judentum eine „Topographie“ darstellen kann. Doch abgesehen von diesen Fragen zeigen die gelungenen Beiträge des Bandes „Profanes Leben“ sehr eindrücklich, wie vielseitig und auch widersprüchlich Benjamins Umgang mit religiösem Erbe und theologischen Motiven war, und wie inspirierend sein Denken für einen differenzierten Blick auf die Moderne – die aktuelle und die Benjamins – wirken kann.

Titelbild

Sigrid Weigel: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, M. 2008.
350 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783596180189

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Titelbild

Daniel Weidner (Hg.): Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
329 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783518295632

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