Beiseite geschrieben
Anke Bennholdt-Thomsens und Alfredo Guzzonis „marginale“ Studien zu Friedrich Hölderlin
Von Martin Endres
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSie setzen unvermittelt ein, ohne Vorwort, ohne Einleitung – allein ein kurzer programmatischer Text auf dem hinteren Buchdeckel gibt einen Hinweis auf den Anspruch der insgesamt zwölf Einzeluntersuchungen, den „Marginalien zu Hölderlins Werk“. Der Titel ist bewusst zweideutig gewählt, da er nicht nur die Textgattung der Analysen benennen soll, sondern zugleich ihren Gegenstand: intendiert ist, „einen Zugang zu Hölderlins Werk von dessen Rändern her zu gewinnen“. Dieser Topos wird nicht näher bestimmt und eröffnet ein Textfeld, das von randstelligen Notaten in den Entwurfshandschriften Friedrich Hölderlins bis zu scheinbar Nebensächlichem wie „Stichworte[n], einzelne[n] Motiven oder Motivketten“ reicht. Ist damit durchaus das Gesamtwerk Hölderlins in den Blick genommen, so liegt der Schwerpunkt der Studien aber eindeutig auf dessen lyrischen Arbeiten.
So sehr der Titel des Bandes von Bennholdt-Thomsen und Guzzoni eine textnahe und präzise Lektüre verheißt, die Übersehenes und Abseitsstehendes in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken soll, so sehr überrascht die gewählte textkritische Praxis. Der Klappentext spricht zwar von einer „philologisch-hermeneutischen Kommentierung“, doch hätte man sich unter einer solch erläuternden Auslegung doch etwas mehr gewünscht. Streckenweise erschöpfen sich die Analysen allein im Auffinden (durchaus nützlicher) realhistorischer oder literarischer Quellen, auf die Hölderlin Bezug nimmt beziehungsweise brieflichen Äußerungen Hölderlins zu seinen Texten. Die Analysen gleichen damit aber mehr dem Apparatband einer kommentierten Werkausgabe denn einer erhellenden Deutung.
Einzig die Überlegungen zur „Lücke“ mögen dank eines etwas spekulativeren Ansatzes aus diesem Schema ausbrechen. Doch auch hier muss gleich einschränkend hinzugefügt werden: Unterbleibt auch einmal die dominante Fundierung der Deutungen auf Realgegenständlichem und Biografischem, schlägt die Interpretation den zweiten prominent gewordenen ‚Umgang‘ mit einer Textstelle ein: die schnelle Flucht in die Parallelstellenanalyse. Dies mag dann (und wann) seine Legitimation gewinnen, wenn die Kontextualisierung eines Wortes, einer Wendung oder eines Bildes dazu führt, eine Passage neu in den Blick zu nehmen und auf die Differenz zu verwandten Äußerungen hin zu befragen – gerade dieser letzte entscheidende Schritt wird hier jedoch meist nicht geleistet.
Entsprechend befremdet ist man von dem im Klappentext formulierten philologischen credo der beiden Autoren, „daß nur das Verständnis vorhandener Details eine Annäherung an zentrale Aspekte oder Fragestellungen [… und] vermißter Sinnzusammenhänge verspricht“. Die hier fokussierte Singularität und Individualität einer Textstelle, das Randstellige und Besondere der Marginalie werden in den Untersuchungen von Bennholdt-Thomsen und Guzzoni vielmehr in den ‚Kontext‘ des Gesamtwerks inkorporiert und hierbei nivelliert. Gleichzeitig – und das ist das paradoxe Ergebnis dieser Kommentierungspraxis – wird die besprochene Einzelstelle damit nur noch zusätzlich marginalisiert, wird ‚beiseite geschrieben‘ und zum sekundären Zeugen für eine übergeordnete und allgemeinere ästhetische Idee diskreditiert.
Dies gilt in besonderer Weise – obgleich mit anderen Vorzeichen – auch für die Reflexionen auf den „handschriftlichen Befund“, der Anlass und Movens der Einzelstudien darstellen soll. Selbst wenn man den mittlerweile vielerorts von beiden Parteien mit (un)berechtigten oder (un)sachlichen Argumenten geführten Streit um die Editionshoheit der Schriften Hölderlins hier einmal zurückstellt: Vorwiegend über das Stuttgarter und Homburger Folioheft zu schreiben und dabei nahezu ausschließlich Beißners Große Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe zu verwenden beziehungsweise die Leseausgabe von Michael Knaupp, verblüfft doch etwas. Die von D. E. Sattler herausgegebene faksimilierte Frankfurter Hölderlin-Ausgabe wird hingegen nur dann herangezogen, wenn es gar nicht mehr anders geht, der Editor selbst meist nur anlässlich einer alternativen Lesart der Handschrift respektive einer heiklen Datierungsfrage konsultiert.
Konsequent zu dieser Editionswahl ist die normalisierte Wiedergabe der handschriftlichen Aufzeichnungen Hölderlins, die völlig aus dem Kontext der Entwurfsmanuskripte gerissen sind und jeden Nachvollzug dessen, was daran nun ‚marginal‘ und widerständig ist, suspendiert. Entsprechend fehlt den Überlegungen – sollen diese doch einen philologischen Kommentar darstellen – oft schlicht die textkritische Basis. Als Beispiel ist hier die Deutung einer Stelle zu nennen, die sich auf der ersten Seite der Entwurfshandschrift von „Mnemosyne“ im Homburger Folioheft findet und der ersten, mit „Die Nymphe“ überschriebenen Aufzeichnungsschicht angehört. Die Autoren zitieren in gleich mehreren Untersuchungen jeweils die ersten drei unvollständig gebliebenen Verse „aber es haben / Zu singen // Blumen auch Wasser und fühlen“.
So unangemessen es ist, diese Passage in der eben von mir notdürftig gewählten Form einer abgeschlossenen Versrede zu zitieren, so erstaunlich ist es, wenn Bennholdt-Thomsen und Guzzoni aus den diskret stehenden Notaten eine geregelte Syntax zu generieren versuchen. Angesichts des frühen Stadiums des Entwurfs und dem deutlichen Leerraum zwischen Zeile 2 und 3, den Hölderlin zu einem späteren Zeitpunkt noch zu überarbeiten und aufzufüllen plante, kann daraus wohl als Letztes geschlossen werden kann, „daß Blumen singen, und zweitens, daß es das Wasser ist, daß es Ihnen ermöglicht“. Die signifikante Mehrdeutigkeit von „haben“ am Übergang von Vers 1 zu 2 oder die sprachlichen Beziehungen zur zweiten Aufzeichnungsschicht an dieser Stelle (die gar nicht erst wiedergegeben wird) erfahren hingegen keinerlei Erwähnung. Um der eigenen Deutung jedoch (wider die eigene Vernunft) Konsistenz zuschreiben zu können, springt die Argumentation vielmehr von einer intertextuellen Belegstelle aus dem Gesamtwerk zur nächsten, jede dort wiederum enthaltene Irritation in ein harmonistisches Gesamtbild auflösend.
Die neuen Untersuchungen von Bennholdt-Thomsen und Guzzoni zu Hölderlin sind daher meist nur dann überzeugend, wenn sie kurz dazu verführen, den kommentierenden Beleg einer Quelle für die letztmögliche und -gültige Aussage über den Text zu bewerten und alles Weitere als haltlose Spekulation außer Acht zu lassen – oder, formuliert man es positiv: zu eben dieser nicht erfolgten Interpretation anregen. Denn tritt man einen Schritt zurück, genauer: geht man noch einmal neu auf die besprochenen Textstellen zu, verblasst die Materialsammlung gegenüber der Individualität der Rede, die es gerade zu erfassen und zu beschreiben gilt. Am Ende schaut man auf den Anfang, den unvermittelten, und auf den Titel des Bandes; und dann fragt man sich, ob sich das darin von den Autoren gewählte ‚zu‘ nicht unter der Hand gegen sie selbst wendet und weit mehr ihr eigenes (im schlechten Wortsinn) ‚marginales‘ Tun klassifiziert denn etwas über das poetische Hölderlins aussagt.
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