Der Surrealismus – eine unerschöpfliche Inspirationsquelle des 20. Jahrhunderts

Zu Ingrid Pfeiffers und Max Holleins Sammelband „Surreale Dinge“

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt es nicht, das „Frühstücksgedeck in Pelz“ (1936), eines der eindringlichsten surrealistischen Objekte, das auch heute nichts von seiner absurden Wirkung verloren hat. Die Schweizer Künstlerin Meret Oppenheim nahm eine Tasse, eine Untertasse und einen Löffel, bezog sie mit Pelz und schuf so ein sich selbst widersprechendes Bild von erstaunlicher Aussagekraft. Es führt ein langes, geheimes Leben als sexuelles Symbol. Wenn man sich vorstellt, das behaarte Gefäß mit einer warmen Flüssigkeit an die Lippen zu setzen, wird die Tasse zum Objekt animalischer Begierde, das zugleich anzieht und abstößt, fasziniert und irritiert; Lust und Schrecken, Heiterkeit und dunkle Ängste gleichermaßen hervorruft. Der surrealistische Objektkult deutet aber noch auf einen anderen Aspekt hin: die Überzeugung, dass „le merveilleux“ – jener Zustand fast sexueller Erregung, den der „Anführer“ der Surrealisten André Breton die „konvulsivische Schönheit“ nannte – überall greifbar war und sich ganz dicht unter der Haut der Realität verbarg.

Eigentlich war das Objekt der Surrealisten eine dreidimensionale Collage. So auch das Bügeleisen, das der amerikanische Fotograf und Objektmacher Man Ray an der Unterseite mit Nägeln versah und „Geschenk“ (1921) nannte. Es war ein völlig nutzloses Ding, ein Objekt gewordener Widerspruch und eine einzige Aggression. Man Rays bekanntestes Objekt ist dann schon etwas komplexer: ein Metronom, an dessen Zeiger die Abbildung eines Auges aufgespießt ist. Die zynischen Untertöne waren deutlich genug, aber erst beim zweiten Hinsehen erkannte man damals den Ursprung des Bildes: es war nämlich das Siegel der Vereinigten Staaten, das auf der Rückseite jeder Dollarnote wie das Auge des Gesetzes über der Pyramide der Geschichte wachte. Der Künstler hat das erste, 1922 geschaffene Objekt später zerschlagen, aber es dann in regelmäßigen Zeitabständen wieder aufgebaut. So wurde aus einem „Objekt, das zerstört werden soll“, ein “unzerstörbares“ Objekt.

Mit etwa 180 dreidimensionalen Werken von 51 bekannten wie weniger bekannten Künstlern führt die Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main – erstmals in dieser ausschließlichen medialen Konzentration – surreale Objekte und Skulpturen vor (bis 29. Mai 2011), die vornehmlich in den 1930er-Jahren entstanden sind, aber in einzelnen Fällen bis in unsere Zeit hinein reichen. Was nicht überliefert worden ist, wird in Fotografien gezeigt. Neue Welten sollten seit den 1920er-Jahren das Gewohnte ablösen: das Unbewusste, Unwirkliche, Träume, Trancezustände, Kinderzeichnungen, Arbeiten Geisteskranker, Kultur und Riten fremder Völkern, der objektive Zufall. Surrealistische Objekte, wie Mikrokosmen anmutend, wurden den Bildern hinzugefügt und surrealistische Ausstellungen inszeniert, die – Makrokosmen gleich – die Environments und Rauminstallationen von heute vorwegnahmen. „Wenn der Verstand träumt, gebiert er Monstren“, hatte Goya unter die Radierung von einem träumenden, über einen Tisch zusammengesunkenen Mann geschrieben. Die Surrealisten wollten diese „Monstren“ sezieren.

Bisher ist immer wieder der Literatur, der Poesie, den Collagen und Gemälden des Surrealismus Aufmerksamkeit geschenkt worden. Erst in jüngster Zeit hat man sich stärker dem surrealistischen Objekt gewidmet, und der reich mit Abbildungen versehene Katalog zur Ausstellung stellt hier einen gewichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der dreidimensionalen Kunst des Surrealismus dar. Ingrid Pfeiffer, Kuratorin der Ausstellung, hebt in einem Grundsatzbeitrag die Nähe surrealistischer Objekte zu zeitgenössischer Kunst hervor und sieht in den seit den 1930er-Jahren entwickelten Objekten alle Grundprinzipien surrealistischer Kunst – Entfremdung, Kombinatorik und Metamorphose – verwirklicht. Sie analysiert die Ausstellungen der Surrealisten, nennt deren wichtigsten Themen und verweist auf Humor, Komik und Parodie als befreiendes und subversives Element. In einem weiteren Aufsatz beschäftigt sie sich mit den „Temporären Objekten“, den Mannequins in der Exposition internationale du réalisme 1938. Angela Lampe wendet sich den Surrealistinnen zu, denen von ihren männlichen Kollegen zunächst nur eine Rolle als Modell und Muse zugestanden wurde, bevor sie sie in ihrem künstlerischen Schaffen anerkannten. Ulrich Lehmann fragt nach dem Verständnis des Gegenstandes im Surrealismus und arbeitet den „Wandel von einem empirischen mechanistischen Verständnis der Welt zu einer Offenbarung der vergegenständlichten, entfremdenden Strukturen in ihr“ heraus. Den Titel eines Textes von Breton „Krise des Objekts“ aufgreifend, analysiert Laurence Madeline die Exposition surréaliste d’objets in der Galerie Charles Ratton 1936 und leitet aus der Aufteilung der hier gezeigten Objekte den Bezug zur Wunderkammer und ihren verschiedenen Abteilungen ab. Alle ausgestellten, hier im Band präsentierten Künstler werden in höchst aufschlussreichen Werkkommentaren vorgestellt.

Wie kam es denn überhaupt zur Entdeckung des Objekts durch die Surrealisten? In der „Einführung zu der Rede über das bisschen Wirklichkeit“ hatte Breton 1924 vorgeschlagen, „einige der Gegenstände, die man nur im Traum erkennt, herzustellen und in Umlauf zu setzen“. Aber erst 1930 reagierte AlbertoGiacometti mit „Die aufgehängte Kugel oder Die Stunde der Spuren“ auf diesen Vorschlag. Hier hängt eine Kugel mit einer scheidenähnlichen Öffnung nur Millimeter über einem bananenförmigen Keil, fast könnte sie ihn berühren: die ewig verweigerte Lust. Diese Arbeit wurde zum Vorläufer des surrealistischen Objekts. Sogleich brachte Salvador Dali das Konzept des „surrealistischen Gegenstande mit symbolischer Funktion“ vor, wofür dann Breton, Valentine Hugo und andere etliche Beispiele gaben (1931). Valentine Hugos „Objekt mit symbolischer Funktion“ (1931) gehört zu den ersten von einer Frau geschaffenen Objekten und etablierte den Handschuh als Fetisch und erotisches Accessoire. Gemeinsam ist den verschiedenen Gegenständen, dass sie erotische Empfindungen suggerieren oder tatsächlich auslösen. Als die einengende Forderung nach „symbolischem Funktionieren“ fallen gelassen wurde, eröffnete sich dem surrealistischen Objekt nunmehr ein praktisch unbegrenztes Forschungsfeld. Es stand außerdem jedermann offen, denn der Gegenstand ist meistens aus wertlosen Materialien, der Zusammenbau technisch nicht schwierig, die Idee, die „Initialzündung“ ist alles. Mit der Collage, wie sie Pablo Picasso und Georges Braque schon seit 1912 handhabten, hielt kunstfremdes Material Einzug in die Kunst. Und mit den gefundenen Objekten, den so genannten „Ready-mades“ von Marcel Duchamp, gewann die Kunst einen Objekt-Charakter, den sie nun schon fast ein Jahrhundert in immer wieder andersartiger Weise und unterschiedlicher Intensität zur Schau trägt und stellt.

Blättert man in dem Katalog, so kann man überraschende, schockierende wie amüsante – lustvolle wohl nicht mehr – Entdeckungen und Beobachtungen anstellen. So bauen Dalis surrealistische Objekte durch ihre mehrschichtigen Interpretationen eine sowohl seltsam anziehende wie abstoßende Beziehung zum Betrachter auf. Das „Hummer- oder aphrodisische Telefon“ (1936), auf dem bedrohlich ein rotgekochter Hummer mit scharfen Scheren als Telefonhörer ruht, verbindet erotische, traumhafte und konkret real fassbare Elemente miteinander. Angeregt von Sigmund Freud wollte Dali in seiner „Venus von Milo mit Schubladen“ (1936/64) einen Körper mit Schubladen gestalten, der „die christliche Erfindung der Gewissensbisse noch nicht gekannt hat“.

Auch der von der Insel Teneriffa stammende Maler Oscar Dominguez wurde durch seinen Erfindungsreichtum bei der Konstruktion surrealistischer Objekte zu einem wichtigen Inspirator. Einen mit schwülstig roten Satinpolstern ausgeschlagenen und so zum bequemen Armsessel umfunktionierten Schubkarren – er gab ihm den Titel „Fauteuil“ (1937) – produzierte er für Salons der Pariser Gesellschaft. Man Ray fotografierte damals den Sessel mit einem Mannequin in einem Abendkleid des Modeschöpfers Lucien Lelong. Die Faszination des Zwiespältigen von Puppen, Mannequins, überhaupt von künstlichen, doch menschenähnlichen Wesen tritt in der Objektkunst des Surrealismus immer wieder in Erscheinung. Als Beispiel einer aktionistischen Antikunst gegen die bürgerliche Kultur kann der „Wildgewordene Spießer Heartfield“ (1920) von George Grosz und John Heartfield gelten, eine Kombination von Schneiderpuppe und Tischlampe. Die Glühbirne anstelle des Kopfes deutet auf die Manipulierbarkeit hin: das Gehirn kann nach Belieben an- und ausgeschaltet werden.

Es gab weibliche Möbelstücke in der surrealistischen Kunst, aber keine männlichen Stühle oder Tische: Dalis Sofa, den Lippen der Hollywood-Diva Mae West nachgeformt, oder Kurt Seligmanns „Ultra-Möbel“ (1938), ein Hocker, dessen vier Beine Mannequinbeine sind. In Hans Bellmers Arbeiten fand die sadistische Bilderwelt der surrealistischen Kunst ihren Höhepunkt. Er schuf eine Gliederpuppe mit Kugelgelenken, die er einfach „Die Puppe“ nannte. Man konnte ihre Glieder nach Belieben biegen, verrenken oder austauschen, das machte sie zu einem hervorragenden Bildträger für sexuelle Fantasien von Vergewaltigung und Brutalität. Das manipulierbare, willfährige Aussehen der Puppe war die Summe all dessen, was sich die Surrealisten unter der Frau als „schönem Opfer“ vorstellten. Dorothea Tanning, die letzte Ehefrau von Max Ernst, gibt wiederum mit ihrem späten „Liegenden Akt“ (1969/70), einem androgynen Körper aus dünnen rosa Wollstoff, dessen Rückenlinie aus Tischtennisbällen gebildet wird, eine irritierende Attraktivität, so dass man fast übersieht, dass die krakenhaften Fangarme und -beine ihr Opfer inzwischen wohl schon erdrückt haben.

Die Faszination der Surrealisten für Fundstücke aus der Natur belegt der bemalte Feldstein, den der gebürtige Rumäne Victor Brauner als “Fantastischer Kopf“ (1934) umdeutete, ebenso wie die große Affinität zum Magischen und zur Kunst der so genannten „Primitiven“.

In den Besitz einiger Gipsabdrücke der Totenmaske von Napoleon gekommen, bemalte der Belgier René Magritte einen – „Die Zukunft der Denkmäler“ (1932) betitelten – mit einem hellblauen Wolkenhimmel, ohne dass hier ein Zusammenhang zwischen dem realen Gegenstand, der Totenmaske, und dem gemalten Bild erkennbar wäre. Der Wolkenhimmel schafft visuell einen Fernblick, der das Gesicht durchscheinend und „unwirklich“ anmuten lässt.

Der Surrealismus hat eine ausgesprochene Vorliebe für den Akt des Verhüllens, durch den man den Gegenstand dem Blick und Zugriff entziehen kann, und für das Verhüllte. Gleichzeitig wird dieser selbst der Möglichkeit beraubt, seine ursprünglichen Funktionen zu erfüllen. Man Ray schuf das geheimnisvolle Objekt „Das Rätsel von Isidore Ducasse“ (1920), das aus einer Nähmaschine bestehen könnte, die in eine Decke eingewickelt und mit einem Seil verschnürt ist. Isidore Ducasse ist der bürgerliche Name des Dichters Lautréamont, von dem man kein einziges authentisches Porträt und nur vage Beschreibungen seines Äußeren kannte. Das nachlässig verschnürte Bündel sollte der deutenden Fantasie alle Freiheit gewähren. Ansteckend in dessen Lyrik wirkte auch die überraschend kühne Verknüpfung von Unangemessenem, ja Unvereinbarem, eine Verknüpfung, die dank der spezifisch visuellen Fantasie Lautréamonts sich direkt in Malerei oder in Objekte umsetzen ließ. Auf des Dichters Sprachbild „Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch“ spielt Man Ray in seinem Werk an. Es war zugleich das früheste Werk der Objektkunst, bei dem der Akt des Verpackens eine entscheidende Rolle spielt. Später haben vor allem Christo, aber auch Joseph Beuys wichtige Beiträge dazu geleistet.

Der surrealistischen Vorstellung des „poetischen Objekts“ wiederum entsprechen die delikaten Assemblagen, die der Amerikaner Joseph Cornell in schreinartige, verglaste Kästen einbaute. Cornell gelang mit sehr einfachen Mitteln eine Synthese aus der illusionistischen surrealistischen Malerei und der scheinbaren Festigkeit des surrealistischen Objektes. Er benutzte dazu den Theatereffekt: „Die vierte Wand“ bestand aus Glas, so konnte man wie auf einer Miniaturbühne alles sehen, was drinnen vor sich ging. Seine Kästen erinnerten nicht nur an Theater, sondern auch an Naturalienkabinette, Archive, in denen die Alltagswelt keinen Zutritt hat und in der zerbrechliche, exotische oder kostbare Stücke der wirklichen Welt unter Glas in Gruppen so ausgestellt werden, dass ihre Anordnung auf größere Zusammenhänge außerhalb des „Rahmens“ schließen lässt.

Das mit den kubistischen Materialcollagen aufgenommene Prinzip hat Picasso in den 1930er-Jahren wieder aufgegriffen: nämlich heterogene Objekte zu einem neuen Ganzen von überraschend andersartiger Bedeutung zusammenzufügen. Der „Frauenkopf“ von 1929/30 enthält zwei Siebe und Nägel, die Hinterkopf und Haare formen. Die „Frau mit Laub“ (1934) in ihrem durch den Abdruck von Wellpappe geformten Gewand bekundet mit beschwörender Geste und einem gipsernen Zweig mit Blättern in der rechten Hand ihre friedliche Absicht, die aber im Kontrast steht zum maskenhaften Gesicht, das von einer rechteckigen Schachtel gebildet wird.

Am Beunruhigsten von allen diesen Objekten wirkt jenes, das 1934 von Giacometti trotz seines figurativen Charakters als „Der unsichtbare Gegenstand“ bezeichnet wurde. Eine Frau mit dem Kopf eines primitiven Götzenbildes steht an eine hohe viereckige Tafel gelehnt. Sie hat etwas Sprechendes im Blick, und in ihren ausgestreckten Händen hält sie das „Objekt“, das nur sie selbst sieht. Nach dem biblischen Propheten des Alten Testaments „Habakuk“ hat Max Ernst 1934, ein Jahr nach Adolf Hitlers Machtergreifung, seine vogelähnliche Figur mit einem abstrahiert modellierten Kopf genannt. Zwei Jahre später richtete er den Blick der Figur, statt nach unten – in schweigender Ohnmacht – gekehrt, nach oben und signalisierte nun Hoffnung angesichts akuter Weltbedrohung.

1941 entstand André Massons „Wüstendenkmal“, eine sitzende menschenähnliche Figur, aus deren rechtem Arm ein vogelähnliches Wesen mit zwei Köpfen herauswächst. Diese erste im amerikanischen Exil entstandene Plastik beruht ursprünglich auf der Form eines Stuhls, der zum abstrahierten Männerkörper mutiert ist, während das Vogelwesen weibliche Züge trägt. Die „existenzielle Unruhe“ des Werkes spiegelt auch die politische Situation, Krieg und Gewalt, aber auch die Hoffnung auf Verwandlung und Veränderung, denn Masson glaubte, „die Welt ist niemals abgeschlossen“, wie er ein Hauptwerk betitelt hat.

So wie sich der Surrealismus selbst inszeniert hat, kann man ihn in diesem Band in einer beziehungsreichen und eindrucksvollen Text-Bild-Montage erleben. Obwohl der Surrealismus als Kunstbewegung schon lange vor 1966, dem Todesjahr Bretons, zu Ende gegangen war, hat er einen reichen Schatz an Ideen für die Künstler der folgenden Jahrzehnte hinterlassen. Claes Oldenburgs riesige „Hamburger“ und Lichtschalter nahmen ganz offensichtlich Bezug auf die Vorliebe der Surrealisten zu halluzinatorischen Objekten, so wie sich Jasper Johns Gipsabgüsse von menschlichen Körperteilen, die über einer Zielscheibe arrangiert sind, von den surrealistischen Traumkabinetten ableiten lassen.

Titelbild

Ingrid Pfeiffer / Max Hollein (Hg.): Surreale Dinge. Skulpturen und Objekte von Dalí bis Man Ray.
Anlässlich der Ausstellung in der Schirn-Kunsthalle Frankfurt, 11. Februar - 29. Mai 2011.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2011.
278 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783775727686

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