Initiation in die Schmidt’sche Ungläubigkeit

In seinem neuen Erzählband „Weltall Erde Mensch“ wirft Jochen Schmidt Schlaglichter auf die Skurilität des Alltags. Der gleichnamige DDR-Jugendweihe-Klassiker bildet dafür die Folie

Von Karen RauhRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karen Rauh

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Woran erkennt man einen Schriftsteller? Ganz einfach: Es sind die „noblen Gesichtszüge“, die den wahren Künstler kennzeichnen und ihn damit von der Masse der gewöhnlichen Menschen abheben, teilt Schmidt augenzwinkernd in der Erzählung „Danke BRD“ mit. Ob sich die „noblen Gesichtszüge“ dabei mit Schmidt’s stoppeligen Dreitagebart vereinbaren lassen? Egal. Denn den Berliner Autor interessieren die Wunderlichkeiten gewöhnlicher Menschen sowieso viel mehr als elitäre Geistesregungen. Oder um es mit einem von Schmidts wundervollen Sätzen aus der Erzählung „Die Stellen zwischen den Stellen“ zu sagen: „Viele Romane erscheinen mir weniger als die Summe ihrer Teile, die ich mir mühsam aus ihnen heraussuchen muss. Man braucht nicht immer das Ganze, ich habe zum Beispiel kein Haus, besitze aber eine sehr schöne Türklinke, den Rest kann ich mir auch denken.“

Das ist die Quintessenz der Schmidt’schen Lebensphilosophie, in dessen Mittelpunkt der Glaube daran steht, dass die Welt nicht nur als großes Ganzes existiert. Jedes Teil und jedes Detail birgt eine neue Möglichkeit, eine neue Sicht, eine neue Erkenntnis. In diesem Sinn hat der Autor für die 34 Geschichten des Bandes und die 12 Erzählungen auf der beiliegenden Hör-CD genau den richtigen Titel gewählt: „Weltall. Erde. Mensch“. Schmidt nimmt damit Bezug auf den gleichnamigen DDR-Jugendweihe-Klassiker der Ulbricht-Zeit. Dieses populärwissenschaftliche Kompendium, das in 22 Auflagen immer wieder mit gehörigem Aufwand auf den aktuellen wissenschaftlichen Stand und die geltende politische Linie gebracht wurde, verkörperte den Anspruch, das Große und Ganze zu repräsentieren, wogegen sich Schmidt mit seinem Erzählband auf sympathische Art und Weise absetzt. Die Erinnerungen seiner Protagonisten an die DDR sind kleinteilig, ohne dabei in eine ermüdende Ostalgie-Haltung zu geraten.

Im Mittelpunkt des Bandes steht auch weniger das „Weltall“ oder die „Erde“, sondern dessen skurrilster Bewohner: der Mensch in seiner natürlichen Umgebung – dem Alltag, genauer: dem postsozialistischen Alltag.

Schmidt konterkariert damit den ursprünglichen Ansatz des Präsentbuches „Weltall Erde Mensch“ völlig. Statt den allseitig gebildeten sozialistischen Menschen, in seinem Wirken innerhalb der sozialistischen Menschengemeinschaft zu zeigen, ist der Schmidt’sche Held von einer latenten Melancholie getragen, die zuweilen, wenn nicht sogar häufig, in einer grotesken Nabelschau endet.

Das Individuum mit seinen ihm eigenen Stärken und Schwächen steht im Mittelpunkt von Schmidts humorigen Texten, in denen Nebensätze ganz schnell philosophische Dimensionen erreichen. Dazu eine Kostprobe des Autors: „Es gibt wenige Dinge, die einen im Leben begeistern – und von diesen ist mir keines bekannt.“ Dem Rezensenten schon – und da gehören auf jeden Fall die Romane und Erzählungen von Jochen Schmidt dazu.

Titelbild

Jochen Schmidt: Weltall. Erde. Mensch.
Mit Audio-CD.
Verlag Voland & Quist, Dresden 2010.
172 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783938424520

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