„Für sie war normal, was für andere nicht normal gewesen war“

Über Melinda Nadj Abonjis neu aufgelegten Roman „Im Schaufenster im Frühling“

Von Juliana GrenovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juliana Grenova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Luisa Amrein kann gut zählen, oft zählt sie in sich hinein. Und dann rückwärts. Das ist schwieriger. Das Zählen hilft ihr das, was sie nicht wahrnehmen will, zu ignorieren. Die Schläge des Vaters zum Beispiel – und eine Zeit lang funktioniert diese Taktik ganz gut.

Luisa ist die Protagonistin des neu aufgelegten Debütromans „Im Schaufenster im Frühling“ der schweizerischen Autorin Melinda Nadj Abonji. Die erste Auflage ist 2004 beim Amman Verlag erschienen, im gleichen Jahr nahm Nadj Abonji mit einem Auszug aus dem Roman am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Dann kam 2010 ihr autobiografisch gefärbter Roman „Tauben fliegen auf“, für den sie mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde. Nadj Abonji ist 1968 in der Vojvodina geboren, damals ein Teil Jugoslawiens, heute Serbien. Die Familie gehört der ungarischen Minderheit an und siedelt 1973 in die Schweiz über, wo sie seit vielen Jahren in Zürich lebt.

„Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Auch diesen Satz las Luisa, verstand ihn aber nicht. Im Fernsehen sah sie einen Film über den Krieg. Dort ging niemand irgendwohin. Alle waren da, wo sie schon immer waren. Zu Hause.“ Luisas Zuhause ist in ihrer Kindheit kein Ort der Sicherheit oder Geborgenheit, Wärme oder Zärtlichkeit; es ist wohl eher ein Kriegsschauplatz. Am liebsten ist sie im Keller oder auf dem Dachboden, meistens allein. In der Wohnung ist der Vater, der später ins Zimmer kommt – und Luisa zählt wie so oft in sich hinein. Die Mutter sagt nichts, sie schluchzt nur. Eine passive, fast ohnmächtige Figur und sicher keine emotionale Bezugsperson für ihre Töchter.

Luisas jüngere Schwester heißt Klara und sie ist eine Zeit lang ihr grausames Spielzeug. Luisa schlägt sie, weil sie merkt, dass danach die Schläge ihres Vaters nicht mehr weh tun. Ein wahnsinniger Teufelskreis. Bis irgendwann mal Klara zurückschlägt. Ab dann tut alles noch stärker weh.

Verstanden fühlt sich Luisa nur von Herrn Zamboni, einem älteren Friseur in ihrem Heimatort. Mit Gleichaltrigen kann sie nur schwer Freundschaften schließen. Sie lebt ja in einer anderen Welt, was sie zwar nicht verstehen und nicht reflektieren kann, was aber ihre Beziehungen von Anfang an zerstört. Luisa versteht nun mal nicht, dass blaue Flecken im Gesicht und Streifen am Rücken eben nicht normal sind. Aber dann tritt Antonella in ihr Leben, ein Mädchen mit einem sehr ähnlichen Schicksal. Eine verwandte Seele, die vieles versteht und mit der man wunderbar Puppen quälen kann.

Es ist nicht leicht, darüber zu lesen, wie Kinder misshandelt werden und man ihnen Gewalt antut. Es ist auch nicht einfach, darüber zu schreiben, ohne dass man sich in Mitleid, Pathos oder Rührseligkeit flüchtet. Nadj Abonji wählt eine interessante, stark reduzierte Erzählweise. Ihre Optik ist sehr distanziert, als ob man die Figuren nur zitieren würde: Es gibt keine Fragen, keine direkte Rede, nur Feststellungen. Alle Informationen, die der Leser bekommt, sind bruchstückhaft, einige Passagen werden mehrmals wiederholt, ohne dass entsprechende Zusammenhänge unmittelbar gebildet werden können, was das Verstehen erschwert und zumindest am Anfang eher irritiert und verwirrt. Mit einem Gefühl von Hilflosigkeit beobachtet der Leser das verwirrte Kind, ein Verstehen oder gar Mitfühlen fällt schwer.

Als Erwachsene lebt Luisa in Wien. Dort lernt sie Valérie und Frank kennen, eine Freundin und einen Geliebten. Dass die beiden Frauen eine Verbundenheit (mit homoerotischen Zügen) verspüren, liegt in der Ähnlichkeit ihrer Kindheitserfahrungen. Valérie wurde vom Vater sexuell missbraucht und alle schauten weg. Auch sonst verfügt er über das Leben der Tochter, bis sie eines Tages Widerstand leistet: Valérie zündet das Elternhaus an und wird angeklagt. Vor dem Gericht versucht sie klarzustellen, dass sie keinen anderen Ausweg aus ihrer Situation gesehen hatte, aber ihr wird nicht geglaubt. Der Vater bleibt übermächtig, das Opfer hilflos.

Die Geschichte von Luisa ist nur fragmentarisch erzählt, vieles erfährt man nicht oder es wird nur angedeutet. Inhaltlich problematisch erscheint die Ähnlichkeit der Schicksale der Freundinnen Antonella und Valérie, beide durch den Vater misshandelt oder missbraucht, beide als Brandstifterinnen bestraft (Antonella wird als Kind ins Heim gesteckt, Valérie als Erwachsene ins Gefängnis). Schematisch wirkt auch das Bild des (Über-)Vaters, sei es als einen, der Kinder misshandelt, oder einen – wie bei einigen Schulkameraden von Luisa –, der, weil reich und mächtig, alle Probleme lösen kann. Sogar bei dem erwachsenen Frank geht es eigentlich um nichts anderes, als durch die Hilfe für Valérie dem eigenen Vater, der ihren Vater vor Gericht vertrat, eins auszuwischen. Sie alle irren in einer Stadt herum, deren Orte archetypisch und jeder Individualität beraubt erscheinen. Wien mit seiner einzigartigen Atmosphäre ist es wohl nicht.

Nadj Abonji erzählt in ihrem Roman „Im Schaufenster im Frühling“ keine heitere oder optimistische Geschichte. Das Ende bleibt offen, viele Fragen unbeantwortet, nur das Schaufenster im Laden von Herrn Zamboni bleibt als symbolische Erinnerung an die Wärme, Geborgenheit und Gespräche bei einer Tasse Tee.

Titelbild

Melinda Nadj Abonji: Im Schaufenster im Frühling. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2011.
139 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783902497864

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