Für Vorgewarnte

Stefanie Voigt schreibt über ein „großes Gefühl und seine Opfer“: „Erhabenheit“

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der ersten Fußnote dieses überaus eigenwilligen und eigenartigen Buches handelt es sich um einen Querverweis, der nicht auf den richtigen Abschnitt innerhalb des Bandes zielt. Fußnote Nr. 2 gibt eine Quelle mit einem Erscheinungsjahr an, welches man im Literaturverzeichnis vergebens sucht, wodurch die Quelle unidentifizierbar bleibt. Der in der dritten Fußnote angeführte Autor lässt sich im Literaturverzeichnis nur dann finden, wenn man sich nicht allzu kleinlich an der herkömmlichen Reihenfolge des Alphabets festklammert. Fußnote Nr. 4 verzichtet wie die vorherigen und die nächstfolgenden auf Seitenangaben. Einen Internet-Beleg, dessen Nachvollzug meine Online-Kapazitäten überfordert, bringt die siebte Fußnote ohne die übliche Angabe des jüngsten Zugriffs. Fußnote Nr. 8 nennt einen Berliner Ausstellungskatalog, ohne jede Referenz im Literaturverzeichnis zu haben. Glücklicherweise konnte Google weiterhelfen.

Die allerletzte Fußnote (Nr. 1275) lautet: „Faust, Der Tragödie Zweiter Teil, Verse 1669-1702.“, und bezieht sich („Werd ich zum Augenblicke sagen…“) auf den Teufelspakt im ersten Teil des „Faust“. Die im Text – unpräzise – zitierte Stelle hat die korrekte Verszählung 1699-1702. Die Worte Fausts versteht Stefanie Voigt übrigens als Formulierung des „Einklang[s] von Schönheit und erhabener Hingabe ans Sterben“.

Was tut nun jemand, der zwar eigentlich jede Zitierpedanterie ebensowenig ausstehen kann wie die peinliche Lust am Formfehlersuchen, dessen Gemüt aber schon nach einer viertel Lesestunde derart zerzaust ist, dass er dieses Produkt am liebsten dem Verlag vor die Füße werfen und die Rezensionsredaktion um Dispens bitten würde? Ich habe mich schließlich, schwankend zwischen Pflicht und Abneigung, dafür entschieden, zumindest der Aufgabe nachzukommen, dem Publikum Kenntnis von der Existenz dieser Schrift zu geben und fünf Mahnungen auszusprechen, deren Befolgung womöglich rezeptionserleichternd sein wird:

Erstens: Minimiere deine Erwartungen an wissenschaftliche Akkuratesse (siehe oben).

Zweitens: Vergiss den Umschlagstext, denn nur wenige Auserwählte mögen fassen, was er besagen will. Und lass dich bloß nicht ins Bockshorn jagen, wenn du dort erfährst, mit dem Buch, das du in Händen hältst, werde „eine komplette Übersicht nicht nur über die Sprach- und Literaturwissenschaft der Erhabenheit gegeben, sondern vor allem über ihre komplette Philosophiegeschichte, ergänzt durch die vielfältigen Verwendungen des Begriffs in verschiedenen Disziplinen, seine psychologisch-theoretische Systematik und eine Wertung der modernen Erhabenheit.“ Lies diesen Satz auch nicht ein zweites Mal; er wird nämlich weder schöner noch bescheidener.

Drittens: Bedenke, dass jedes Buch, erst recht dann, wenn es unerträglich hochnäsig daherstolziert, Menschenwerk ist. Der Mensch aber verfügt nicht immer über die zur guten Vollendung des Werks erforderlichen Eigenschaften wie Geduld, Ausdauer, Spannkraft, Disziplin oder auch Begeisterung. Daher verzweifle nicht über mysteriösen Passagen wie dieser: „Platon wendet sich radikal gegen die Erklärung der Welt allein durch Mythen […]; was allein zählt, sind logisch konsistente Begründungen. […] Derselbe Platon legt den Protagonisten seiner Dialoge jedoch immer wieder, und zwar an entscheidenden Stellen, mythologische Welterklärungen in den Mund und lässt sie sich auf die Götter berufen, so dass er seither als Inbegriff des göttlich-erhabenen Philosophen gilt, weil er, anders als sein Schüler Aristoteles, mit auf die Götter bezogenen und deswegen in der Folge als erhaben empfundenen Begründungen arbeitet.“

Gib auch nicht sogleich auf, nachdem du erhebliche Schwierigkeiten mit dem folgenden hattest: „Die kopernikanische Wende des Erhabenen vom Objektiven zum Subjektiven, die vorher schon in vollem Gange war, findet ihren endgültigen Vollstrecker in Immanuel Kant (1724-1804). Erhaben ist demzufolge keine äußere Instanz, sondern unser ureigenstes Gefühl der Pflicht. Um diese These zu erreichen – die eigentlich schon Gemeingut war – baut Kant laut den üblichen Legenden der Philosophiegeschichte in seiner ‚Kritik der Urteilskraft‘ 1790 erstmals den Ansatz des Longinus systematisch mit der besonderen Zielsetzung aus, den in großer Vielfalt vorkommenden persönlichen Geschmack von einer allgemein verbindlichen Systematik der Empfindungen zu trennen.“

Versieh solche Stellen mit einem Fragezeichen und suche Rat in einer verlässlichen Philosophie- respektive Ästhetikgeschichte oder in einem soliden einschlägigen Wörterbuch.

Viertens: Erschrick nicht, wenn du dem „weiblichen Erhabenen“ (feminine sublime) begegnest, das, etwas vereinfacht gesagt, unter demselben Leitgedanken steht wie die SPD mit ihrem Grundsatzprogramm von 2007: „Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden.“ Wer also gemäß der Idee des weiblich Erhabenen das menschlich Erhabene will, muss das männlich Erhabene überwinden.

Sei dir dessen bewusst, dass es für Frauen heute eine Kränkung bedeuten kann, wenn sie in den Reflexionen über das Erhabene bei Edmund Burke oder Kant dem weiblichen Geschlecht Schönheit, dem männlichen hingegen Erhabenheit zugesprochen sehen. Burke („Vom Erhabenen und Schönen“) behauptete beispielsweise, dass „die Qualität der Schönheit, wo sie im höchsten Grade vorhanden ist – nämlich im weiblichen Geschlecht –, fast immer eine Idee von Schwäche und Unvollkommenheit mit sich führt“, und fügte hinzu: „Frauen wissen das recht gut; aus diesem Grunde üben sie sich darin, zu lispeln, unsicher zu laufen…“. Kant („Kritik der Urteilskraft“) wiederum sagte: „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist. […] Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist.“

Kein Wunder nun, dass ein gleichstellungsverpflichtetes Bewusstsein, das den menschlichen Geschlechtsdimorphismus auf den „kleinen Unterschied“ reduziert und die „Zipfelträger“ verlacht hat, die tradierte Gegensatzpaar-Folge von „schön vs. erhaben“, „weiblich vs. männlich“, „schwach vs. stark“ und „klein vs. groß“ für antiquiert und dekonstruktionsbedürftig hält. Da hat es in der Tat seine – antidichotomisierende – Konsequenz, wenn der „Dritte Feminismus“, wie von Voigt zu erfahren ist, den (die? das?) „Cyborg“ (ein Mischwesen aus Maschine und Organismus) für ein „Paradigma weiblicher Erhabenheit“ hält, währenddessen ein US-amerikanischer Queer-Denker „Sodomie“ (Mann-Mann-Verkehr) „unter die Kategorie des Erhabenen“ fallen lässt.

Fünftens: Du solltest es nicht unterlassen, vor der Lektüre dieser Publikation in Voigts 2005 im Waxmann Verlag erschienenes Buch „Das Geheimnis des Schönen. Über menschliche Kunst und künstliche Menschen oder: Wie Bewusstsein entsteht“ hineinzusehen, weil dir dann vermutlich einige Hintergründe der vorliegenden Schrift klarer werden.

Schon dort gab sich Voigt als engagierte Schülerin des neurophysiologisch arbeitenden Psychologen Dietrich Dörner zu erkennen. Die dem „Geheimnis des Schönen“ zugrunde liegende Dissertation war vom Leibniz-Preisträger Dörner betreut worden, hatte ein „Summa cum laude“ erhalten und war 2002 mit dem Promotionspreis der Universität Bamberg ausgezeichnet worden. Es ging in der Doktorarbeit um die Erstellung eines umfassenden Strukturmodells der Ästhetik, das sämtliche bis dahin ungeklärten Fragen, was denn das Schöne sei, qua Dörner’scher Psychologie einer Antwort zuführte.

Auch damals schon hatte Voigt das „Erhabene“ kurz in Anlehnung an Dörners Konzept eines „Bauplan[s] für die Seele“ unter dem Schlüsselbegriff „Empathie“ thematisiert, so dass man das hier besprochene Buch wohl als Fortsetzung dieser Bemühungen zu werten hat. Auf ihre frühere Studie verweist die Autorin in ihrer jetzigen Arbeit unter der Überschrift „Psychologische Funktionsweisen der Erhabenheit“, wo sie postuliert: „Erhabenheit lässt [sic!] in einem Modell der ästhetischen Wahrnehmung zunächst als Umschreibung fast jeder intensiveren Emotion finden. Dies verwundert nicht, denn jedes ästhetische Lustempfinden kann als ‚beflügelnd‘ umschrieben werden.“

Halten wir es mit Voigt, die „Erhabenheit. Über ein großes Gefühl und seine Opfer“ „[a]nstatt eines Nachwortes“ mit der Erinnerung an einen Amoklauf an ihrer früheren Schule beschließt und dieses Ereignis mit dem Thema ihres Buches folgendermaßen verknüpft: „Ein 18jähriger Schüler hatte diese Tat von langer Hand geplant, in Erwartung seines Todes ein Testament verfasst, das auf das Datum ‚9/11‘ ausgestellt war, und den 17.9.2009 als Tag der ‚Apokalypse‘ in seinem Kalender vermerkt; es wurden 11 Menschen teilweise schwerst verletzt, vor allem Mädchen – und all das sind Umsetzungen der Erhabenheitstheorie in ihrer schlimmsten, aber angesichts der hier aufgeführten Theorien nicht unerwarteten Ausprägung. In Fällen wie diesen sind rein psychologisierende Interpretationsversuche einseitig, provozieren u. U. Mißverständnisse und weitere Opfer der Erhabenheit. Aber auch mit Hintergrundwissen wird es nicht einfach sein, diese Art falsch verstandener Erhabenheit zu domestizieren.“

Die richtig verstandene Erhabenheit aber? Woher sie nehmen in einer postmetaphysischen, säkularen Zeit, die – wie alle Zeiten – aus den Tiefen ruft, die jedoch in den Höhen nichts als echolose Leere findet? Voigt wendete es 2005 so: „Da […] keine ‚Rückmeldung‘ der empathischen Gefühle zu erwarten ist, lässt sich diese Art der Empathie als intransitive Empathie bezeichnen.“ Warum nicht? Immerhin ein neuer Ausdruck für eine alte Not.

Titelbild

Stefanie Voigt: Erhabenheit. Über ein großes Gefühl und seine Opfer.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011.
308 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783826042836

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