Die Welt als Rätsel

Gert Jonkes Erzählung „Erwachen zum großen Schlafkrieg“ wurde mit einem Nachwort von Paul Jandl neu aufgelegt

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn die Phantasie der Physik an den Kragen geht, dann ist es meist ein Werk von Gert Jonke“, schreibt Paul Jandl über den mehrmals ausgezeichneten österreichischen Schriftsteller. Und tatsächlich werden die Gesetze der Physik in Jonkes literarischem Schaffen außer Kraft gesetzt: „An manchen Tagen springen die Straßenbahnschienen aus dem Asphalt, schütteln sich lästige Haltestellen ab und verlegen sich die Endstationen ein paar Meter luftaufwärts.“ Wenn Gegenstände lebendig werden und „menschliche Züge“ bekommen, zeigt sich der Einfluss der Alltagsobjekte auf den Menschen. Während man sich gewöhnlich kaum Gedanken darüber macht, wie sehr die Umwelt einen beeinflusst, zeigt Jonkes Text, wie wir alle von scheinbar toten Dingen gelenkt und gedrängt werden.

So liegt es auch nicht fern, eine Verbindung zu Franz Kafka zu finden, besonders dann, wenn Jonkes Protagonistenpaar von einer Stubenfliege besucht wird und diese sich mit der Frau so anfreundet, sodass der Mann nicht mehr in die Küche darf und auswärts seine Mahlzeiten zu sich nehmen muss, während Elvira, so der Name der Stubenfliege, mit der Frau eine Metamorphose eingeht und eines Tages spurlos verschwindet.

Jonke treibt mit dem Leser sein Spiel, lässt diesen in einer Alltagssituation einsteigen, welche sich nahezu unmerklich in einer Fantasiewelt entfaltet. Dies schafft Jonke durch das Spiel mit der Sprache. Seine literarische Welt ist geprägt von laufenden Wiederholungen und zieht den Leser in einen sprachlichen Sog, welcher zirkulär dann wieder kommt, wenn man glaubt, längst entkommen zu sein: „Denn das Vergessen war ein Warten geworden, und auch seine Erinnerung wurde zu einem Wartesaal, in dem er eine unendliche Rückkehr in seine auf ihn zukommende Zeit morgen oder übermorgen ersann, als hätte er sie so weit hinter sich gebracht, daß sie ihm schon wieder vorausgeeilt war, ihn meilenweit übersprungen hatte.“

In diesem Zitat kann man auch die Absurdität von Sisyphus herauslesen. Das absurde Leben, in dem jede Handlung darauf zielt, wiederholt zu werden. Nichts was vergessen wird, bleibt hinter einem, sondern wartet vor einem. Alles, was vom Leben berührt worden ist, kommt zu einem späteren Zeitpunkt wieder. Wie auch die einzelnen Wörter und Phrasen, einmal erst verwendet, immer wieder auftauchen. Im Titel „Erwachen zum großen Schlafkrieg“ steckt es bereits. Der Schlaf und das damit verbundene Unbewusste, welches nicht an die Oberfläche gelangt und aktiv sowie bewusst zum Handeln kommt, sondern wieder in unbewussten Handlungen zum Ausdruck kommen kann. Auch im ersten Teil der Trilogie („Schule der Geläufigkeit“, „Der Ferne Klang“ und „Erwachen zum großen Schlafkrieg“) steht die Auseinandersetzung mit dem Nachwirken der Vergangenheit im Vordergrund.

Fritz Burgmüller, um den sich die Trilogie dreht, schildert dabei immer wieder seine Probleme mit dem Erinnern. Dies führt dazu, dass ihm eine Schauspielerfreundin Erinnerungen erfindet, welche plötzlich zu Burgmüllers Gegenwart werden und er sich neu orientieren muss. Ein Prozess, bei dem das Ende unabsehbar ist. Bereits im ersten Band war „die Gegenwart der Erinnerung“ ein Thema. Da die Vergangenheit in die Zukunft wirken kann, beschäftigt sich auch Burgmüller als Interessierter an der Zukunft mit dem Vergangenen. Das Subjekt ist liquide und laufender Veränderung unterworfen. Burgmüllers einzige Konstante ist die Unkonstante. Dies ist sein Antrieb. „[…] da war er wirklich gespannt, was alles in seiner neuen Vergangenheit auf ihn zukommen sollte, welche Persönlichkeitsabbildung seiner allertiefsten neuen Innerlichkeit, von der er noch gar nichts ahnen konnte, weil er seine eigenen allergeheimsten Intimitäten soeben erst von ihr vorgekaut bekommen würde aus ihrer Schreibmaschine heraus in ihn hineingeklopft, eine neue Gegenwelt vor ihn hingestellt, fast als würde ihm ein neuer Schatten an seine Figur angelegt […]“.

Seine Identität bewegt sich wie sein Schatten, wobei dieser mehr herumirrt als zielstrebig wandert. Er hat dabei nur bedingt Kontrolle über den Schatten, wie über seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei unterscheidet er sich nicht viel von den anderen. Mehr und mehr gleicht er sich seiner Umgebung an. Sein Äußeres konstituiert sich durch Andere und Anderes. Sein Denken geht vom Bewusstsein ins Unbewusstsein nahtlos über. Auch wenn er fleißig übt seine Gedanken unter Kontrolle zu bekommen, um sich von ihnen loslösen zu können. „[…] nach und nach hatte er Übung erlangt, den Strom seiner Gedanken an seinem wachen Schlaf vorbeizuleiten, er war unabhängig von seinem Denken geworden, weil er innerhalb eines als Nebengedächtnis ersatzgedankendurchflossenen Bereiches Zuflucht fand, der sich auch als absolut wirksamer Schutzraum gegen alles ihm mißliebig Gewordene erwies […].“

Jonkes Schreiben entsteht in Sprachschichten, welche sich über den Inhalt legen. So eilt die Dichte der Sprache dem Plot weit voraus, sodass der Leser erst im mehrmaligen Lesen die sprachschöpferischen Schichten abtragen kann. Alles scheint so fragil und transparent, dass man am Ende gar nichts mehr durchschauen kann. In dieser Hinsicht wird auch klar, warum der Text nicht durch Anfang und Ende gekennzeichnet ist. Jonke durchschaute das schriftstellerische Genre wie den Roman, weil er damit Regeln einlösen hätte müssen, die er nicht akzeptieren wollte oder konnte. Die Sprache hat sich bei Jonkes Text emanzipiert und ist auf der Suche. Ankommen will sie nicht, jedoch in Bewegung bleiben. Dieses Gefühl erlangt man auch fast 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung bei der Lektüre, wenn die Wortschöpfungen und Phrasenfindungen Satz für Satz überraschen.

Der im Jahr 2009 verstorbene Schriftsteller schreibt gegen die Zurückverwandlung der Geschehnisse in Buchstaben, „bis wir uns eines Tages in der Starre unserer Buchstabengelenke nicht mehr rühren können wie früher ganz am Anfang, als wir wie zerstreute Silben in gebrochenen Zeilen durch die Luft irrten“. Wie Jandl schreibt, löst „Erwachen zum großen Schlafkrieg“ einen Urknall an Möglichkeiten aus. Jeder von uns erschafft die Welt in einer neuen Art und Weise. Jonke schafft es, die Welt auf jeder neuen Seite neu zu erschaffen.

Titelbild

Gert Jonke: Erwachen zum großen Schlafkrieg. Erzählung.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2011.
270 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783902497857

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