Die niedere Abkunft der Götter

In „Das Rätsel des Sündenbocks“ skizziert Eberhard Th. Haas im Rückgriff auf Freud und Girard eine Kulturtheorie der Neurosen

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

René Girard hat in seinen Schriften eine schroffe Zurückweisung der Freud’schen Psychoanalyse kultiviert. Dass er in Wirklichkeit aber Sigmund Freuds in „Totem und Tabu“ angelegte Kulturtheorie „in produktiver Feindschaft“ fortgeführt, ja systematisiert und präzisiert habe, ist der Befund des Psychoanalytikers Eberhard Th. Haas in dessen Buch „Das Rätsel des Sündenbocks“. Darin hebt er hervor, dass sowohl Freud als auch Girard die Entstehung der menschlichen Kultur aus kollektiven Gewalttaten erklären. Es ist dies die Geburt des Menschen als „rituelles Tier“ (Friedrich Nietzsche), denn um den Lynchmord herum organisieren sich erste Riten, die ihn szenisch wiederholen und kontrollieren, sowie Mythen, die ihn verschleiern und verklären. In diesem Prozess sind das Heilige und die Gewalt eng verwoben: Ein von der Gruppe kollektiv getötetes Mitglied erfährt posthum die Erhöhung zum göttlichen Garanten der rituellen Ordnung. Dieser wird nach Freud als „Über-Ich“ von den Individuen verinnerlicht. „Die Menschen erfinden nicht ihre Götter, sondern divinisieren ihre Opfer“, fasst Girard zusammen.

Was auf den ersten Blick überrascht, dass nämlich Gott, der Höchste, zunächst der Niedere, Verdammte, das Opfer war, findet sich Girard zufolge jedoch in erstaunlicher Regelmäßigkeit in den Mythen archaischer Religionen, wie auch in der antiken Mythologie und quasi idealtypisch in der Passionsgeschichte Jesu wieder. „So bekennt sich denn in der christlichen Lehre die Menschheit am unverhülltesten zu der schuldvollen Tat der Urzeit“, schreibt Freud in „Totem und Tabu“.

Freud und Girard, so Haas, zielten beide auf eine historische Wahrheit, auf ein reales Geschehen hinter den mythischen Erzählungen. Ihre historisierende Lesart wolle die „Geheimnisse der Gattungsgeschichte“ buchstäblich enthüllen und mache im Zuge dessen auch den „anthropologischen Realismus“ der Religion kenntlich.

In „Das Rätsel des Sündenbocks“ gibt Haas eine Einführung in die Opfertheorie René Girards, verbindet diese mit Freuds Auffassungen der Religion und beschreibt, wie Reste des archaisch-rituellen Erbes in uns fortwirken. So zeige sich etwa in der Trauer ein seelischer Prozess, der über die Verstoßung des Verstorbenen bis zu dessen Quasi-Auferstehung als psychische Struktur verlaufe. Darüber hinaus erfahren Psychopathologien wie Phobien, Angsthysterien und Zwangserkrankungen, aber auch Perversionen und Sucht in dieser Sicht neue Herleitungen. In ausführlichen psychoanalytischen Falldarstellungen konkretisiert Haas, wie diese ritualdynamischen Einsichten therapeutisches Handeln beeinflussen können. Der letzte Teil des Buches widmet sich der Untersuchung, inwieweit Kunst- und Kulturgeschichte von Gewalt transformierenden, kathartischen Prozessen Zeugnis geben.

Eberhard Th. Haas ist Lehranalytiker am Psychoanalytischen Institut Heidelberg-Karlsruhe und in eigener Praxis in Darmstadt tätig. In mehreren Publikationen tritt er für eine Wiederaneignung von Freuds Kulturtheorie in der Psychoanalyse ein. Vor deren Hintergrund sei auch ein vertieftes Verständnis psychischer Krankheitsbilder möglich.

Anmerkung der Redaktion: Diese Ausgabe enthält auch ein Interview mit Dr. Eberhard Th. Haas.

Titelbild

Eberhard Th. Haas: Das Rätsel des Sündenbocks. Zur Entschlüsselung einer grundlegenden kulturellen Figur.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2009.
275 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783837920017

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