Denken im Angesicht des Todes

Peter Bürger und die surrealistische Postmoderne

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Knapp und bündig präsentiert sich die neueste Veröffentlichung des Bremer Romanisten Peter Bürger. Der Titel verspricht einen direkten Einstieg in den Zusammenhang des jüngeren französischen Denkens, und ohnehin darf vom Autor einiges erwartet werden. Peter Bürger zählt zu den herausragenden Köpfen der bundesrepublikanischen akademischen Landschaft und hat sich seit Anfang der siebziger Jahre durch eine Reihe kunst- und literaturtheoretischer Schriften, insbesondere zum Begriff der Avantgarde und zum französischen Surrealismus, einen Namen gemacht.

Diese Konstellation verspricht zudem, gegen das andauernde Versäumnis einer gründlichen philosophischen Rezeption des französischen Poststrukturalismus ein Zeichen zu setzen. Wo dieser nicht als Texttheorie dem Aufgabenfeld neuerer Philologien zugerechnet wurde, blieb die Diskussion in der Bundesrepublik bis heute von idiosynkratischen Berührungsängsten bestimmt. Der anderthalb Jahrzehnte alte Versuch von Jürgen Habermas, sich in den "Philosophischen Diskurs der Moderne" einzumischen, stellt bis heute die sozialdemokratisch-rosarot eingefärbte Brille dar, durch die der französische Poststrukturalismus zu lesen sei. Peter Bürgers neueste Publikation nährt die Hoffnung, dass der gängige Usus der Abrechnungshermeneutik nicht das Maß aller Dinge bleibt.

Trotz seiner Kürze ist dieses Buch sehr gründlich. Dichte Formulierungen und vielfältige zweisprachige Zitate führen tief in den französischen Diskurs hinein und weisen eine untergründige Theoriegeschichte nach. Bürger reflektiert die zeitdiagnostischen Gehalte und ist solidarisch mit den Geltungsansprüchen, die in die unsichtbare Kette des postmodernen Denkens eingelassen sind.

Wie alles Denken, das von den Schocks und Traumatisierungen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht unberührt geblieben ist, findet auch die französische Postmoderne in der Katastrophe ihren Ursprung. Ihre Geschichte beginnt mit dem Ersten Weltkrieg. Die radikale kulturelle Zerrüttung, die er hinterließ, die Unmittelbarkeit kollektiver Todeserfahrungen und die gleichzeitige Sehnsucht nach authentischer Unmittelbarkeit bestimmen das katastrophische Denken. Diesseits der deutsch-französischen Grenze findet es in Walter Benjamin und Ernst Jünger seine bedeutendsten Anwälte.

Peter Bürger zeigt, welche zentrale Bedeutung Tod und Gewalt im französischen Surrealismus haben und vor allem auf welche Weise die Hegel-Interpretation Alexandre Kojèves zur Urgeschichte der Postmoderne zählt. Hegel hatte im Kampf um Anerkennung zwischen Herr und Knecht eine reflexive Subjektivität und die Grenzen menschlicher Knechtschaft in tätiger Selbstverwirklichung dargelegt. Kojève liest Hegel mit den Augen Martin Heideggers. Hegels berühmte Formulierungen über die Dialektik von Herr und Knecht, so Kojève, deuten besonders die existenzielle Todeserfahrung an, die im Kampf um Leben und Tod enthalten ist. Der Kampf um Anerkennung gewinnt auf diese Weise die Bedeutung eines Denkens der radikalen Grenze des Lebens und des Denkens.

So wird der Tod, der auch denkgeschichtlich an der Grenze des modernen Vernunftversprechen steht, zum zentral gedachten Undenkbaren in der französischen Philosophie. Insbesondere im Surrealismus variieren Gewalt, Opfer und Selbstmord als Todesmotiv und begründen einen Ausbruchsversuch aus dem modernen Zwangszusammenhang von Arbeit, Fortschritt und Subjektivität, der in Hegels Herr-Knecht-Dialektik seine paradigmatische Grundlegung erfahren hatte. Georges Bataille, Maurice Blanchot und Jacques Lacan stellen das entscheidende Scharnier einer postmodern gewordenen Hegel- bzw. Kojève-Lektüre dar. Subversion, Ekstase und Zerrüttung, die Eröffnung eines Dispositivs des Wahnsinns markieren die Eckpunkte dieser surrealistischen Strategie. Michel Foucault lässt sich leicht in diese Tradition einordnen. Aber auch die Sprach- und Subjektkritik Jacques Derridas weiß Bürger hier zu verorten. Die Destruktion von Sinnansprüchen, seine Entscheidung für Spiel und Kontingenz deuten diese interne Beziehung an.

Das Ensemble der modernekritischen Strategien ist die Gleichzeitigkeit einer Kritik des Subjekts mit einer Kritik der Ursprungsphilosophie. Weder wird, wie in der stereotypen großen Erzählung der Moderne, das souveräne Subjekt an den Ursprung aller Kultur gesetzt, noch, wie etwa in der entlarvungspsychologischen Modernekritik Nietzsches, ein dahinter liegender Ursprung hypostasiert. Kritik und Rettung der Moderne fallen so in eins. Dahinter eröffnet sich ein unbegrenzter Möglichkeitsraum jenseits moderner und konservativ-zynischer Mythen.

Der Gedankenzusammenhang in Bürgers Buch ist ungeduldig formuliert. Die Gedanken ballen sich in mitunter unüberschaubarer Dichte. Nicht alle theoretischen Zusammenhänge, die der Autor strapaziert, sind schlüssig nachvollziehbar. Aber Bürgers eigene theoretische Praxis darf vielleicht selbst schon als Bestandteil einer Zerrüttung moderner (Denk-)Gewissheiten verstanden werden, als die er das postmoderne Denken rekonstruiert. Es lohnt sich allemal, seine Einladung eines Denkens an die eigenen Grenzen anzunehmen.

Titelbild

Peter Bürger: Ursprung des postmodernen Denkens.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000.
190 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3934730108

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