„Man hat’s halt schwer als Dialektiker“
Theodor W. Adorno und seine Einführung in die Dialektik
Von Robert Zwarg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit dem Beginn der Veröffentlichung der nachgelassenen Schriften Theodor W. Adornos erfreuen sich seine Vorlesungen großer Beliebtheit. Der soweit wie möglich in der mündlichen Rede belassene Stil – Adorno sprach frei mit wenigen Notizen – macht die Vorlesungen nicht nur lesbar, sondern vermittelt auch einen Eindruck des Kritischen Theoretikers als Pädagoge im Umgang mit seinen Studenten. 2010 ist der zweite Band der umfangreichen Vorlesungsabteilung erschienen. Wie die bisherigen Veröffentlichungen wurde auch diese mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat durch den Herausgeber versehen – in diesem Falle Christoph Ziermann – der in jedem Falle eine Würdigung für sich beanspruchen kann. Er leistet einen entscheidenden Beitrag, das Denken Adornos zu erschließen und auf seine philosophiegeschichtliche Verortung hin transparent zu machen.
Es war kein geringeres Datum als der 8. Mai 1958, als Adorno vor den Studenten der Frankfurter Goethe-Universität die erste von 20 Vorlesungen mit dem Titel „Einführung in die Dialektik“ hielt. Gerade von dieser ersten Stunde ist lediglich eine Nachschrift vorhanden, alle anderen wurden aus Mitschnitten für den eigenen Gebrauch Adornos (ursprünglich nicht zur Veröffentlichung) transkribiert. Ob Adorno in der ersten Vorlesung auf das geschichtsträchtige Datum zu sprechen kam, ist nicht ersichtlich. Seinem Begriff von dialektischem Denken würde es jedoch durchaus entsprechen. Denn dieser ist immer auch historisch und gesellschaftlich, er postuliert gerade kein abgehobenes Ideenreich, in dem sich Dialektik als „bloße begriffliche Spiegelfechterei“ abspielt. Für Adorno ist der Gegenstand der Dialektik ein sowohl bewegter – und damit geschichtlich – als auch ein in sich zerrissener – und damit gesellschaftlich. Zugleich eine Sache des Subjekts und des Objekts, ist Dialektik damit keinesfalls selbstverständlich, ja sogar widersprüchlich. Einerseits ist sie erlernbar, muss erlernbar sein, wenn die Vorlesung als propädeutisches Projekt nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt sein soll. Anderseits liegt sie in der Sache selbst, insofern diese nie bloß in sich ruhend, sondern dynamisch ist und damit nie ganz aufgeht in begrifflichem Denken. Schon in der fünften Vorlesung werden die Studenten mit dem gewaltigen Projekt der Dialektik im Adorno’schen Sinne konfrontiert, dessen Hauptmotiv immer wieder variiert auftritt und einer „Quadratur des Kreises“ gleicht: „nämlich das gerade, was nicht aufgeht in Rationalität, das Nichtidentische, das, was sich nicht selber unmittelbar konstruieren läßt, gleichwohl zu konstruieren, mit dem Bewußtsein selbst also, das Irrationale zu begreifen.“ Diese Spannung und der Versuch, gleichzeitig eine Einführung in die Dialektik im pädagogischen Sinne und orientiert an einem philosophischen Kanon zu geben, bestimmt und durchzieht die Vorlesung von der ersten bis zur letzten Seite.
Gerade weil es der Vorlesung gelingt, auch eine Einführung in die Dialektik in diesem letzteren Sinne zu sein, eignet sie sich nicht für diejenigen Leser, denen es um einen Blick in Adornos work in progress geht. Darin bestand bisher zum Teil der unbestrittene Wert der Vorlesungen, dass sie es erlaubten, einen Eindruck von der Konzeptionsphase von Büchern wie „Ästhetische Theorie“ oder – wie in diesem Fall – in „Negative Dialektik“ zu geben. Der vorliegende Text geht darüber insofern hinaus, als er vor allem eine Einführung in das Werk desjenigen Denkers gibt, der wie kein anderer implizit und explizit Adornos Werk bestimmt: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. In ausführlichen und weitschweifig kommentierten Zitaten bringt Adorno den Studenten zunächst die „Phänomenologie des Geistes“ und die „Logik“ nahe, später verfährt er auf ähnliche Art und Weise mit René Descartes. Dabei entsteht einerseits ein lebendiger Eindruck der Texte selbst, anderseits wird auch Adornos Umgang mit dem philosophischen Kanon deutlich. Denn immer wieder verfährt er nach dem Schema, mit einem Autor gegen denselben zu denken. Sowohl für die damaligen Studenten als auch für den heutigen Leser war und ist damit Wachsamkeit geboten. Denn die Gedanken Adornos beispielweise gegenüber Hegel, seien nicht „ohne weiteres als eine Darstellung der Hegelschen Philosophie [zu] nehmen […], so wie bei Hegel an Ort und Stelle die Dinge gemeint sind, sondern daß es sich dabei um einen Versuch der Rettung Hegels handelt, und zwar, […], in einem gewissen Widerspruch zu gewissen Grundintentionen von Hegel selbst.“
Wie sehr Adorno der Methode Hegels verpflichtet ist, zeigt sich dort, wo er gängige Vorurteile gegen die Dialektik aufnimmt und sie in den Vortrag einbaut. Gleich dem Reflexions- und Stufengang der „Phänomenologie“ werden einzelne Sichtweisen auf die Dialektik – sie sei Sophistik, strenge Methode und historisches Bewegungsprinzip – zunächst auf und damit für wahr genommen, im weiteren Gang der Reflexion aber entweder ihrer Falschheit, meist jedoch ihrer Unvollständigkeit überführt. Vielleicht ging ein verhaltenes Lachen durchs Auditorium, vielleicht auch Enttäuschung, dass es mit der Dialektik doch weit komplizierter steht, wenn Adorno im Bezug auf das berühmte Schema These-Antithese-Synthese den bescheidenen Anspruch formuliert: „Und ich wäre schon ganz zufrieden, wenn es mir gelingen würde, in dieser Vorlesung von den verschiedensten Seiten her einen Begriff von Dialektik in Ihnen zu wecken, der sich von diesem Automatismus der Examensfrage frei macht.“ Dialektik, betont Adorno immer wieder, ist ein Denken in Zumutungen. „[M]an hat’s halt sehr schwer als Dialektiker“, wie der Lehrer seinen Studenten gegenüber einmal lakonisch bemerkt. Kein fester Grund wie in der Ontologie, kein Regelwerk wie in Descartes Methode und keine Systematik wie in der spekulativen Metaphysik ist der Dialektik, wie Adorno sie im Sinn hat, gegeben.
Es ist vor allem eine doppelte Frontstellung, in der Adorno die Dialektik immer wieder verortet, die Ontologie auf der einen und der Positivismus auf der anderen Seite. Vor allem in Bezug auf Letzteren zeigen sich im Verlauf der Vorlesung Differenzierungen, die sich der starren Entgegensetzung von Kritischer Theorie und Positivismus widersetzen. So spricht Adorno von einer „inneren Affinität“ von Dialektik und Positivismus, die in der Konzentration auf das Kleinste, die mikrologische Versenkung in jenes, was dem Positivismus als Fakt und Gegeben gilt, ohne eine Subsumtion vorab unter einen Oberbegriff, bestünde.
Und so nimmt Adorno trotz aller Weigerung, Beispiele im klassischen Sinne zu geben, immer wieder Elemente der Gesellschaft und der Geschichte in den Vortrag hinein, um sowohl die Zumutungen als auch den Wert dialektischen Denkens seinen Studenten einsichtig zu machen. Gleichzeitig verwahrt er sich gegen simple Reduktionen, so als ahne er die mindestens bruchstückhafte, oft schlicht instrumentelle Rezeption der Kritischen Theorie durch die Studentenbewegung in den 1960er-Jahren voraus: „Denn einmal besteht ja durchaus die Möglichkeit, daß Sie auf eine ganz willkürliche Weise, sagen wir, etwa von außen her, zur Erklärung irgendwelcher Sozialphänomene sofort draufklatschen: ‚Naja, das kommt halt von der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft‘, oder: ‚Das kommt von dem Stand der Produktivkräfte oder von irgendwelchen derartigen Dingen‘, ohne daß die Notwendigkeit dieses Überganges auf die Totalität in der Beschaffenheit des zu studierenden Einzelphänomens tatsächlich enthalten wäre“.
So wie hier ist stets Adornos Bemühen zu spüren, es seinem eigenen Denken, wie dem der Studenten, nicht leicht zu machen. Tatsächlich wendet Adorno diese Methode auch gegen sich selbst, wenn er zum Beispiel mehrmals am Anfang der Vorlesung Bemerkungen aus der letzten aufnimmt, sie teils zurücknimmt, neu gewichtet oder revidiert. Doch die Einführung in die Zumutungen der Dialektik geschieht nicht nur auf dem Wege der ständigen Infragestellung philosophischer Tradition, sondern auch durch für Adorno charakteristische Zuspitzungen, wie die, dass die Urform des philosophischen Urteils das Todesurteil sei. Die Faszination der Vorlesungen wie auch von Adornos Denken selbst liegt in der Schwerkraft, die derartige Formulierung entwickeln und den Reiz, den sie auf ein Bewusstsein ausüben, dass sich nicht mit sich selbst bescheiden will.
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