Ohne den typischen Sound

Georg Steiners Buch „Im Raum der Stille. Lektüren“ enttäuscht

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Wissenschaftler und Kulturkritiker George Steiner, 1929 in Wien geboren und bis zu seiner Emeritierung Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft in Cambridge, Oxford und Genf, hat viele brillante Bücher geschrieben. Das vorliegende gehört nicht dazu. Es versammelt siebzehn Aufsätze, die Steiner zwischen 1967 und 1992 für die Zeitschrift New Yorker geschrieben hat. Es sind allesamt Rezensionen zu amerikanischen Ausgaben von Büchern europäischer Autoren.

Dies aber bedeutet, dass Steiner hier für ein Lesepublikum schreibt, dem die Autoren eher unbekannt sein dürften, obwohl sie fast alle zur Weltliteratur zählen. Deshalb enthalten die Texte stellenweise etwas aufdringlich wirkende Belehrungen. Außerdem geht Steiner auch oft auf Übersetzungsprobleme ein, etwa, was nicht verwundert, bei Paul Celan oder Elias Canetti, die allerdings für den deutschen Leser völlig irrelevant sind.

Besonders bedauerlich ist jedoch, dass in den Texten der typische Steiner-Sound fehlt, der ansonsten bei jedem neuen Steiner-Buch ein mächtiges Getöse hervorruft, wie es zuletzt bei dem Essay „Warum Denken traurig macht“ (2006) zu vernehmen war, und der ganz wesentlich in der „eigentümlichen Mischung aus tiefer Gelehrsamkeit und Provokation“ (Michael Krüger) besteht. Steiner will ja für halbwegs Vergessene werben, etwa für Arthur Koestler oder Hermann Broch. Dabei ist er nicht frei von Eitelkeit, wenn er persönliche Beziehungen mit einflicht, so etwa zu Gershom Scholem.

Am ehesten bei sich selbst ist Steiner in dem Aufsatz über die amerikanische Ausgabe von Bertolt Brechts „Briefe 1913-1956“, der 1990 erschien, just als sich, wie der gesamte sogenannte Ostblock, auch die DDR nach 40 Jahren aus der Weltgeschichte verabschiedete. Hier kommt er auf eine seiner Grundthesen zurück, der zufolge „nach den mosaischen prophetischen Geboten der Gerechtigkeit, nach dem frühen Christentum, der Marxismus die dritte große Blaupause der Hoffnung“ war. „Liebe und Solidarität“, so die Marx’sche Utopie, solle „statt Geld und hasserfüllter Wettbewerb den Austausch zwischen den Menschen bestimmen.“ Die Lehren von 1989/90 jedoch zeigen, so Steiner, dass „kollektive, sozialistische Ideale zu der einen oder anderen Form des Gulags“ führen. Der Kulturkritiker zieht daraus den melancholischen Schluss: „Das Wissen darum macht uns ärmer.“ Brecht habe, so Steiner, um diesen inneren Widerspruch gewusst. Als man ihn fragte, warum er vor den Nazis nicht Zuflucht in Moskau suche, habe er geantwortet: „Ich bin ein Kommunist, kein Idiot.“

Selbst jüdischer Herkunft, ist für Steiner das Judentum der meisten Autoren ein Thema, das er nicht außer Acht lässt und auf für ihn typische Weise zuspitzt. So fragt er nach dem Zusammenhang zwischen der „Zerstörung des europäischen Judentums“ und der „kritischen, zersetzenden Gewalt jüdischen Denkens“, eine äußerst gefährliche Parole, die von den Nazis weidlich ausgeschlachtet worden ist. Im Hinblick auf eine angeblich destruktive Zeitdiagnose, die in Ludwig Wittgensteins „Tractatus“, Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ und Hugo von Hofmannsthals „Brief des Lord Chandos“ geäußert werde, stellt er die Frage: „Welche Verbindungen gab es mit der heraufziehenden Nacht? Wann ist die Vorahnung zugleich Verantwortung?“

Gänzlich dem Zeitgeist auf den Leim geht Steiner allerdings in seiner Besprechung von Albert Speers „Spandauer Tagebüchern“ aus dem Jahre 1976. Er bescheinigt dem NS-Minister für Rüstung und Kriegsproduktion „ein Quentchen geistiger Gesundheit und moralischen Empfindens“, weil er vor dem Nürnberger Tribunal seine Verantwortung für die Rüstungsanstrengungen des „Dritten Reiches“ eingestanden habe. Heute wissen wir, dass Speer mit diesem Teilgeständnis seinen Kopf aus der Schlinge zog, während das Wissen um den Holocaust, das er fälschlicherweise nicht eingestand, ihn zum sicheren Todeskandidaten gemacht hätte.

Titelbild

George Steiner: Im Raum der Stille. Lektüren.
Übersetzt aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
271 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422311

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch