Körperdichtung: Büchner, Müller, Grünbein
Alexa Hennemanns Studie "Die Zerbrechlichkeit der Körper”
Von Alexander Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn der ansonsten Dissertationen vorbehaltenen Reihe der "Studien zur Deutschen und Europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts" ist in diesem Jahr die Magisterarbeit Alexa Hennemanns erschienen. Die Herausgeber begründen dies ausdrücklich mit dem Forschungsgegenstand wie der Erkenntnisleistung dieser herausragenden Arbeit. Sie widmet sich den Georg-Büchner-Preisreden von zwei Autoren, die exemplarisch für ihre Generationen stehen können: Heiner Müller und Durs Grünbein, dessen Lyrik wiederum von Müller selbst für den Suhrkamp Verlag kurz vor Öffnung der Mauer entdeckt wurde, was Grünbeins beispiellose Karriere "im Westen" einleitete. Müller hielt schließlich auch die Laudatio auf Grünbein, als dieser 1995, exakt 10 Jahre nach Müller, den Büchner-Preis entgegennahm.
In einem ausführlichen Vergleich analysiert Hennemann die poetologische und weltanschauliche Selbstreflexion der beiden Autoren, die der Bezugnahme zu Büchners Werk inhärent ist. Anhand der Terminologie Gérard Genettes, dessen Konzept der Transtextualität, das zwischen den hier angewandten Kategorien der Inter-, Meta-, und Hypertextualität unterscheidet, werden den Reden Müllers und Grünbeins klare Textherstellungsverfahren zugewiesen. Während Müllers transtextuelle Verweise in "Wunde Woyzeck" aufgeschlüsselt werden, die Rede als Hypertext des Fragments "Woyzeck" gelesen wird, erscheint Grünbeins "Den Körper zerbrechen" als Kommentar bzw. Metatext von Büchners Züricher Probevorlesung "Über Schädelnerven". In der Untersuchung geht Hennemann dabei umfassend auf die bei beiden Autoren zentrale Ästhetik des Fragments ein, das, zugleich archäologischer wie eschatologischer Prägung, nur im Kontext eines jeweils unterschiedlichen Utopieverständnisses verstanden werden kann. Es kristallisieren sich dabei verschiedene Kunstkonzeptionen heraus, die im Rekurs auf Büchner von Körperbildern definiert werden. Von dieser Metaphorik ausgehend erläutert die Autorin die diversen Spiegelungen Müllers und Grünbeins. Die Dialektik Grünbeins, die sich in der Vorstellung einer Autopsie als poetischem Verfahren ausdrückt, wird ebenso präzise dargestellt wie Müllers gesamtgesellschaftliches, revolutionäres Anliegen. Grünbeins Vorgehensweise beruft sich auf den einzelnen Körper, den toten Körper als Untersuchungsgegenstand, das Bruchstück, dessen Autopsie nicht nur Schlüsse auf das Geschehen der Außenwelt, die Geschichte, ermöglichen soll, sondern auch Teil einer künstlerischen Methode werden soll, einer Utopie der "Neuro-Romantik", der unmöglichen Vereinigung von Wissenschaft und Kunst; dieser Poetik entspricht die inhaltlich in der Tradition der Romantiker Novalis und Friedrich Schlegel stehende Konzeption des Fragments. Müller hingegen betrachtet den Körper in seiner Gesamtheit aus der Sicht des Historikers. Der "Wunde Woyzeck", die in der Gesellschaft gärt, wird als Hoffnunspotential der "Woyzecksche" Kontinent Afrika entgegengesetzt; Müllers Fragmentbegriff ist eher formal bzw. in der Schlussfolgerung als ein Mittel gegen herrschende Sprach- und Literatursysteme zu deuten. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen führen zu auseinanderdriftenden Einstellungen, die Hennemann als generationsspezifisch beschreibt. Während Müller, der zwei Diktaturen durchlebte, für ein Volk und seine Geschichte zu sprechen scheint, beharrt Grünbein auf seiner Individualität, seinem Subjektstatus, der mit keiner zerstörerischen Zukunftsvision zu vereinbaren ist. Ihm ist "jeder Gesellschaftsentwurf wertlos, wenn er nicht auch das Bewußtsein von der Zerbrechlichkeit dieser traurigen Körper einschließt." Eine persönliche Episode wiederholt diese Haltung den Utopien gegenüber; es ist die Abkehr von der Geschichte, in deren Anschluss Grünbein eine individualisierte "Physiologie aufgegangen in Dichtung" anstrebt: "Ausruhn wollte er, abschalten von Ost und West, von der unseligen Verklammerung des Gespaltenen aller Verhältnisse und Gehirne".
Das Verdienst Alexa Hennemanns besteht in der klar strukturierten, kritischen Gegenüberstellung zweier poetologischer Systeme, die sich im Verlauf ihrer Eruierung als exemplarisch erweisen. Hennemanns präziser Ausdruck und die methodisch gut nachzuvollziehende Analyse stärken die Argumentation darüber hinaus. Den einleitenden Kapiteln zu Genettes Transtextualiät und den Begriffen der Physiologie in der Dichtung und des Fragments - letztere werden vor allem literarhistorisch verortet - folgen die daran anknüpfenden Untersuchungen en détail. Aus den Einzeldarstellungen der Reden geht nach dem Zwischenergebnis ein umfassender Vergleich der daraus abgeleiteten poetologischen Aspekte hervor. Die Bibliographie konzentriert sich, ausgehend von einer knappen Synopsis der Forschungssituation in der Einleitung, ausschließlich auf die in dieser Arbeit fokussierten Problemstellungen. Einzig an dieser Stelle, gerade angesichts der betreffs Grünbein noch überschaubaren Sekundärliteratur, hätte man sich eine ausführlichere Darstellung gewünscht. Insgesamt überzeugt die Studie Hennemanns jedoch in hohem Maße. Ihr gelingt dabei nicht allein der angestrebte Vergleich zweier Autorengenerationen unter Berücksichtigung des jeweils eigenen literaturgeschichtlichen Traditionsbezugs, sie liefert auch, neben einem erst während der Entstehung dieser Arbeit veröffentlichten Aufsatz von Wolfgang Riedel, einen der ersten Versuche, die Poetik Grünbeins paradigmatisch darzustellen.