Geflüstertes Glücksversprechen

Magnus Klaue stellt Else Lasker-Schüler vom Kopf auf die Füße

Von Malte VölkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Völk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anhand von Else Lasker-Schülers Gedicht von einem alten Tibetteppich („Meine Seele, die die deine liebet / Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet“) lässt sich in nuce zeigen, wie sich Magnus Klaue dem Werk dieser oft als etwas versponnen geltenden Dichterin nähert. Die aktuellen postmodernen Interpretationen des Gedichts weist er scharf zurück: Mit ihren Vorstellungen einer Dekonstruktion von Liebe und Subjektivität, mit ihrem fetischisierten Textualitätsbegriff würden solche Deutungen das Gedicht letztlich in einer verdinglichten Belanglosigkeit „warenförmig“ verstehen. Der Verfasser sieht hingegen eine mimetische Mitteilung der poetischen Rede überhaupt, die nicht auf eine Intertextualität abzielt, sondern auf die Beziehung zwischen Menschen, so dass also dem Ausdruck lebendiger Sprache, mithin der ästhetischen Autonomie nachgespürt wird.

Ein solches Beharren auf den selten gewordenen Begriffen der Aufklärung – neben der ästhetischen Autonomie etwa auch denen von Individualität und Freiheit – macht den besonderen Reiz dieser Studie aus. Die „affektive Belebung des Einfachsten, Abgenutzten, wie sie sich im ‚alten‘ Tibetteppich […] materialisiert“, lässt sich auch für das Vorgehen von Magnus Klaue insgesamt konstatieren: Die inzwischen häufig als abgenutzt und veraltet angesehenen Begriffe von Aufklärung und Moderne werden wiederbelebt – schließlich steht ihre Einlösung ja auch immer noch aus! Dieser Ansatz führt dann zum Beispiel auch dazu, dass die völlig zu unrecht vergessenen literaturtheoretischen Überlegungen der Adorno- und Szondi-Schülerin Elisabeth Lenk den Gang der Untersuchung fortwährend begleiten, während neuere Forschungsansätze meist wohlbegründet hintangestellt werden.

Die Dissertationsschrift nimmt das Werk Lasker-Schülers aus der Zeit vor ihrer Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland in den Blick, was angesichts der gewählten Analysekategorien sicher sinnvoll ist. Diese gruppieren sich um die titelgebenden Begriffe vom poetischen Enthusiasmus und einer Ästhetik der Kolportage, wobei die bei Lasker-Schüler immer wieder auftauchenden Elemente von Kitsch, Tand, Naivität und Trivialität ausdrücklich ernst genommen und auf ihren ästhetischen Gehalt hin befragt werden sollen.

Nachdem in der Einleitung der historisch-gesellschaftliche Rahmen der Untersuchung erläutert wurde – die sich zuspitzenden inneren und äußeren Konflikte des Bürgertums um die Jahrhundertwende führen unter anderem zu pointierteren Aufspaltungen auch der kulturellen und künstlerischen Sphäre, wie es etwa die Herausbildung einer sich von der bürgerlichen Gesellschaft abgrenzenden Bohème zeigt – werden zunächst verschiedene ästhetische Konzepte aus der weiteren geistigen Verwandtschaft Lasker-Schülers aufgeschlossen. So wird etwa der Gestus des ‚Kindlichen‘ gegenüber der Literatur bei Walter Benjamin als Versuch des Festhaltens einer individuellen Erfahrungsfähigkeit für die Analyse Lasker-Schülers fruchtbar gemacht: Bei beiden erscheint der kindliche Blick als Chiffre für das Zulassen einer unreglementierten, freien ästhetischen Erfahrung, die gerade durch die Öffnung des Individuums für fremde, von außen kommende Einflüsse dessen Eigenständigkeit fördert.

Doch ist der Rekurs auf Kindheit bei Lasker-Schüler auch gegenständlich genommen von Bedeutung. Sehr schön stellt Klaue die zeitgenössischen Debatten über kindliches Lesen in einen Zusammenhang mit seinem Thema. Die damals gängigen Warnungen vor übermäßiger ‚Lesewut‘ der Kinder, die Angst, sie an Traumwelten zu verlieren, die reizvoller sein könnten als die Realität, die Verteufelung der fantastischen Indianerliteratur vom Schlage des Karl May, all dies drückt ex negativo das realitätsverändernde Potential der Literatur aus, das sich im Enthusiasmus ankündigt. Der poetische Enthusiasmus entspringt einer „kommunikativen Poesie“, die den Leser als Individuum anspricht, ihn als „Mitspieler“ gewinnen will, ohne ihn zu bevormunden. Der poetische Enthusiasmus markiert das „Erfahrungspotential eines ‚wütenden‘, euphorisierten Lesens“, eines Lesens, das in seiner fantastischen Intensität die Grenze zwischen dem stellvertretend für andere agierenden Künstler und seinen passiven Rezipienten sprengt. Die „Arbeitsteilung“ zwischen Produzenten und Publikum wird aufgekündigt.

Im Sinne einer solchen universalen Verbreitung von ästhetischer Autonomie erweckt Klaue den heute kaum noch gebräuchlichen Begriff der Kolportage wieder zum Leben. Das ist nun ein geschickter Kunstgriff. Waren die Kolporteure ursprünglich so etwas wie literarische Lumpensammler, die für eine Zielgruppe, die man heute wahrscheinlich als bildungsfern bezeichnen würde, Trivialliteratur an Haustüren feilboten, so ist die Kolportage gleichsam ein untergegangener Bereich der Massenkultur. Unter Rückgriff auf ästhetische Kategorien von Theodor W. Adorno und insbesondere Ernst Bloch bestimmt Klaue die Kolportage als ein Zwischenreich, das ganz offensichtlich nicht der vom Bürgertum fetischisierten Hochkultur angehört, jedoch auch nicht, wie man zunächst vermuten könnte, der kulturindustriellen Sphäre, in der die Massen um ihr Glück betrogen werden (oder sich selbst darum betrügen). Demnach hält die Kolportage, wenn auch in einer durch Kitsch und Trivialität entstellten Form, mit der Sehnsucht nach einer Flucht aus der profanen Realität ein Moment des utopischen Strebens der Kunst aufrecht. Diese Weigerung, sich mit der vorliegenden Realität bruchlos zu versöhnen, hat eine „Intention auf Popularität, die dem Begriff ästhetischer Autonomie nicht zuwiderläuft, sondern ihn verwirklichen soll“.

Dieser Gedanke eines Festhaltens an einer solchen Intention der Popularität stellt für den Verfasser auch den Punkt dar, an dem er Else Lasker-Schüler trotz aller Einflüsse und persönlicher Verbindungen von der Berliner Bohème getrennt sieht. Das Verhältnis der Dichterin zu Protagonisten wie Gustav Landauer oder Erich Mühsam (der gerade durch die Publikation seiner Tagebücher wieder auf breiteres Interesse stößt) tariert Klaue neu aus, wobei ein Begriff von individueller ästhetischer Freiheit wiederum als Maßstab dient. Hier sticht besonders die sorgfältig und überzeugend begründete Revision des Verhältnisses von Lasker-Schüler zu Peter Hille hervor. In der Forschung meist als väterliches Vorbild und Mentor der Dichterin gesetzt, bringt Klaue die nicht unmittelbar sichtbaren ästhetischen Differenzen der beiden zum Vorschein: Hilles Ideologie einer Verhärtung gegen sich selbst und andere, das der Jugendbewegung ähnelnde Ideal einer Lebenstüchtigkeit hat demnach mehr mit dem „sozialen Darwinismus“ und der „Volksgemeinschaft“ gemein als mit Lasker-Schülers poetischem Enthusiasmus. Strebt dieser doch eine ganz andere, nämlich eine „poetische Gemeinschaft“ an, die „zuvorderst immer an die einsame Subjektivität appelliert“.

Die einsame Subjektivität, die der Erfahrung der Einsamkeit standhält, sich nicht in die falsche Heimeligkeit von bedrückenden Kollektiven flüchtet, sondern an dem Wunsch nach der Vereinigung mit anderen Individuen festhält, ist also Adressatin des Werks Lasker- Schülers. Die Sprache dieses Werks ist eine des Flüsterns, das in zarter Offenheit „affektive Bilder“ evoziert, die nicht in der Mitteilung oder gar Kommunikation von Informationen erstarren, sondern in ihrem Beharren auf Fantasie und Subjektivität an ein fast vergessenes Glücksversprechen erinnern: „die freie Assoziation der individuellen Menschen“.

Insgesamt ist die Studie ein schönes Beispiel für eine gelungene Integration von philologischer Analyse und ideologiekritischer Positionierung. Sie zeigt, wie lebendig Literaturwissenschaft sein kann, wenn sie ihren Gegenstand ernst nimmt und sich damit einer Perspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse gerade nicht entzieht. Zwar hätten die oftmals überdeutlichen Anklänge an die Ästhetik der Romantik bei Lasker-Schüler noch eine Erwähnung finden können, was aber vielleicht auch kaum etwas an den Ergebnissen der Untersuchung geändert hätte. Besonders zu loben ist hingegen, dass der Verfasser dem Leser keine langweiligen Passagen zumutet. Das liegt nicht nur daran, dass das Buch hervorragend geschrieben ist, sondern auch an der deutlichen kritischen Positionierung der Argumentation. Am Wissenschaftsbetrieb und seinen Produkten lässt Klaue kaum ein gutes Haar. Insbesondere für Freunde der postmodernen Theoriebildung hält die Lektüre einige narzisstische Kränkungen bereit. Klaue kritisiert alles – sogar seine eigenen frühen Publikationen zu Lasker-Schüler.

Titelbild

Magnus Klaue: Poetischer Enthusiasmus. Else Lasker-Schülers Ästhetik der Kolportage.
Böhlau Verlag, Köln 2011.
383 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783412206802

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch