In seinem Werk spiegelt sich die ganze Fülle des japanischen Lebens

Ein prächtiger Hokusai-Band bringt neue Erkenntnisse über den weltbekannten Meister des Japanholzschnitts

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt sie nicht, die „Große Woge“, jenen Farbholzschnitt von Hokusai, der fast genauso berühmt ist wie die „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci? Dieses Doppelblatt gehört zur Folge der 36 Ansichten des Fuji-Berges, die der japanische Meister zwischen 1820 und 1829 im Alter von beinahe 70 Jahren schuf. Er lässt auf diesen Bildern den heiligen Gipfel in dem Rahmen immer neuer Vordergründe erscheinen, über einem Gewitter, hinter Baumwipfeln, im Hintergrund von Meeresbuchten oder Tälern oder durch ein Mauerwerk betrachtet. In unserem Blatt kam nun der Künstler auf den wahrhaft geistreichen Einfall, die Firnhaube des Vulkans im Ausschnitt einer ungeheuren Sturzwelle von hinreißender rhythmischer Gewalt aufblitzen zu lassen.

So entstand ein Kunstwerk von zeitloser Gültigkeit, vor allem vielleicht die großartigste Darstellung und Deutung des stürmischen Meeres, die es in der bildenden Kunst gibt. Mächtig greifen die Wasser in den Himmel hinein, tief wühlt sich der Himmel in die Fluten. Leuchtende Helligkeiten sind von tiefblauen Dunkelheiten unterfangen. Ob die drei gegen die mächtigen Brecher ankämpfenden Ruderboote – eben hat sich vor dem hintersten Boot eine Sturzwelle von solchem Riesenmaß emporgereckt, dass uns der Atem stockt – davonkommen werden, wir wissen es nicht. Weil das Rätseln nie ein Ende hat, bleibt die Anteilnahme ewig rege, denn Hokusai wahrt kunstvoll die Doppeldeutigkeit, gibt sein Geheimnis nicht preis, ähnlich wie in anderem Sinne die Giaconda des Leonardo.

Uns war bisher mehr oder weniger nur das Spätwerk Katsushika Hokusais bekannt, nun aber ist das 150-jährige Jubiläum der Freundschaft zwischen Japan und Deutschland der Anlass, das ganze Werk dieses genialen Künstlers, der ebenso wichtig für den Austausch westlicher und japanischer Kunst und Kultur war, erstmals in Deutschland – und überhaupt erstmals außerhalb Japans – zu zeigen (Martin-Gropius-Bau Berlin, bis 24. Oktober). Hokusai, der in der späten Edo-Zeit, in der 2. Hälfte des 18. und 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte und über 70 Jahre lang ein beeindruckendes Werk schuf, erneuerte nicht nur die traditionelle Kunst Japans, sondern nahm auch westliche Maltechniken auf, die damals durch den Handel mit Holland nach Japan gelangten. Seine Farbholzschnitte, auf denen Licht, Atmosphäre und Bewegung in allen Phasen in für westliche Augen überraschend neuen Kompositionen eingefangen waren, dieser Wechsel zwischen lebendig schwingenden Kurven der Konturen und zarten Farbflächen, begeisterten die europäischen Künstler, die den Impressionismus einleiteten. Die europäische Grafik und Malerei, auch das Kunsthandwerk, sollten dann immer wieder Anregungen des Meisters des Japanholzschnittes aufnehmen.

Hokusai war der Wegbereiter der japanischen Hozschnittkunst Ukiyo-e, was „Bilder der fließenden Welt“ bedeutet. Die Landschaft als selbständige Kunstgattung wurde von ihm eingeführt. Er galt als „Besessener der Malerei“, änderte häufig seine Künstlernamen, was in Japan zum durchaus Üblichen gehört, und fiel schon früh durch seine ungewöhnliche Begabung auf.

In dem mit 370 großformatigen, farbigen Abbildungen prächtig ausgestatteten Katalog vermitteln vier Studien neue Aspekte der Hokusai-Forschung. Der Herausgeber Nagata Seiji, der zugleich auch Kurator der Berliner Ausstellung ist, zeigt, wie sich Hokusais Stil bis zu seinem Tode ständig wandelte und wie sich dementsprechend auch immer wieder sein Künstlername änderte. Gerade das erschwert die Rekonstruktion seines vielschichtigen und bewegten Lebens. Intensiv beschreibt er Hokusais Jahre des Lernens – die Shunro-Zeit –, die Entfaltung des neuen Stils seit 1794/95 – die Sori-Periode –, Hokusais Hinwendung zur Roman-Illustration ab 1804, seine Gestaltung vielseitiger Mallehrbücher seit 1811 – die Taito-Zeit –, die Hoch-Zeit der großen Mehrfarbendrucke und schließlich Hokusais Vollendung im Alter.

In einem weiteren Essay beschäftigt sich derselbe Autor mit Hokusais repräsentativstem Bilderhandbuch – „Hokusai manga“ –, dessen erste 10 Bände kontinuierlich von 1814 bis 1819 erschienen, während die letzten 5 Bände unregelmäßig – der letzte erst nach des Meisters Tod – herauskamen. Sie dienten als Bildervorlagen für seine Schüler, sollten aber auch den Malstil der Katsushika-Schule den Nachfolgern und Bewunderern im ganzen Land vermitteln und hatten zudem den Zweck, den Handwerkern illustrierende Vorlagen für ihre Arbeiten zu liefern. Hendrik Budde spürt der Geschichte des Japonismus in Europa nach und vermittelt anschaulich, wie die initiale Begegnung mit Hokusais gewaltigem grafischen Werk Künstler (wie Félix Bracquemond, James McNeill Whistler, Edouard Manet, Edgar Degas, Claude Monet, Jacques J. Tissot, Alfred Stevens und viele andere), Kunstsammler und -händler in gleichem Maße beeinflussten.

Eine wichtige Inspirationsquelle für die Japanmode wurden die Weltausstellungen 1862 in London und 1867 in Paris. Während es in Frankreich zu einem regelrechten Japan-Boom kam, setzte das Interesse für die ukiyo-e-Kunst in Deutschland erst Ende des 19. Jahrhunderts ein. Vor allem über die französischen Nabi-Künstler wurde deutschen Malern und Zeichnern die Bekanntschaft mit den Stilmerkmalen des japanischen Farbholzschnittes vermittelt. Wie kam es, dass die Stadt Edo, heute Tokyo, die bis Ende des 16. Jahrhunderts nur ein kleines Bauern- und Fischerdorf war, schon zu Hokusais Lebzeiten 1,3 Millionen Einwohner hatte und zur größten Stadt der Welt zählte, fragt Gereon Sievernich und taucht tief in die Geschichte dieser einzigartigen Stadt ein. Eine ausführliche Chronologie des Lebens und Werkes von Hokusai, ein Glossar und eine umfangreiche Bibliografie bereichern den Band.

Vor allem aber sind es die – knapp kommentierten – Abbildungen, die einen in den Bann ziehen. Man blättert und blättert, schaut und schaut. 15 Jahre lang hatte Hokusai in der Werkstatt seines Lehrers Kasukawa Shunsho Schauspielerporträts und Illustrationen für Feuilletons gestaltet. Die Begegnung mit der europäischen Kunst sollte dann seinen Stil nachhaltig beeinflussen. Angeregt durch holländische Kupferstiche, veröffentlichte er eine Reihe von Landschaften, die bereits Atmosphäre, auch ohne die Darstellung von Schatten, besaßen und die Illusion des Raumes auf der Fläche des Papiers glaubhaft darstellten. Hokusai hatte sich in dieser Zeit bereits Kenntnisse der europäischen Perspektive erworben. Die Ansichten von Edo und der benachbarten Küstengegend zeigen eine panoramaartige Perspektive und ein ungewöhnliches Helldunkel. Seit der Wende zum 19. Jahrhundert herrscht in seinem Werk das Thema „Figuren in Landschaften“ vor, in wundervollen Kompositionen gestaltet. Die Gestalten pulsieren gleichsam von Bewegung und sind fast immer leicht karikiert. Eine besondere Überraschung sind in dem Band die Skizzenbücher (Manga), die eigentlich keine Skizzen oder Entwürfe für danach breiter ausgeführte Werke sind, sondern „Bilder im Überfluss“, ein gleichsam spielerisch gelieferter Nachweis der künstlerischen Vielseitigkeit und Erfindungsgabe ihres Schöpfers, die durchaus auch anderen Malern Anregung liefern sollten. Was für eine unbeschreibliche Fülle von Einfällen, Beobachtungen aus dem täglichen Leben – Landschaften, Tieren, Blumen und Geschichtsbildern – breitet sich hier aus.

Zwischen 1820 und 1840 erschienen die bedeutendsten Farbholzschnittserien Hokusais, neben den „36 Ansichten des Fuji“, die in Wahrheit 46 Blätter enthält, „Elf Brücken“ – Menschenwerk wird hier in die große Harmonie der umgebenden Landschaft eingesetzt – „Acht Wasserfälle“ – hier ging es ihm um die malerischen Schönheiten und grandiosen Partien der japanischen Landschaft – „Hundert von der alten Amme erzählte Gedichte“ sowie Folgen von Einzelblättern mit Blumen und Vögeln. In einem gewissen Gegensatz zu diesen harmonischen Werken steht die Serie der „Hundert Geschichten“, in denen das Grauen und die Furcht zu erdrückenden Visionen gesteigert sind.

Sein genialstes Werk sind aber die schlicht in Schwarz und Grau gedruckten drei späten Holzschnittbände mit den „Hundert Ansichten des Fuji“. Die in überaus kühnen und geistreichen Erfindungen niedergelegte Fülle an strotzendem Leben und subtiler Naturbeobachtung ist nie übertroffen worden. Immer wieder verbindet er den Berg mit dem geschäftigen Treiben der Menschen. Er weiß alles über die Arbeit der Handwerker, Fischer, Bauern, Jäger und Hirten. Dazwischen streut er Darstellungen aus Sage und Geschichte ein.

Hokusai starb im Alter von fast 90 Jahren, bettelarm, wie er immer gewesen war. Aber sein echter Künstlerfanatismus und sein unverwüstlicher Humor erhielten ihm bis zuletzt die Schaffenskraft. Sein unverwechselbares Werk, das der Band hier erstmals dem deutschsprachigen Leser in solcher Breite und Fülle vermittelt, zeichnet ihn als einen der größten Zeichner und Menschenschilderer aller Zeiten aus – als Künstler im Rang eines Brueghel, Rembrandt, Callot, Goya oder Daumier.

Titelbild

Seiji Nagata (Hg.): Hokusai.
Nicolai Verlag, Berlin 2011.
400 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783894796884

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