Lehrjahre der Gefühle
John Burnsides erschütternder Roman „Lügen über meinen Vater“ ist eine komplexe Erzählung über Schuld und Vergebung
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer in Deutschland immer noch viel zu wenig bekannte, 1955 geborene schottische Autor John Burnside ist ein Spezialist für das Dunkle und Erschütternde, für die quälenden großen Fragen, kurz: für Texte, die uns nachdenklich und unruhig zurücklassen, wie das auch bei seinen letzten beiden in deutscher Übersetzung erschienenen Romanen „Die Spur des Teufels“ (2008) und „Glister“ (2009) der Fall war.
Sein neuester, im englischen Original schon 2006 erschienener Roman ist sein bislang überzeugendster Text, weil er an die elementaren Zusammenhänge zwischen Kunst und Realität, zwischen Literatur und Leben rührt und einen Autor zeigt, der es versteht, mit dem Medium des Romans kunstvoll zu experimentieren. Schon der vorangestellte Paratext führt zur eigentlichen Thematik des Romans hin: „Dieses Buch liest man am besten als ein Werk der Fiktion. Wäre mein Vater hier, um mit mir darüber zu reden, gäbe er mir bestimmt recht, wenn ich sagte, es sei ebenso wahr zu behaupten, dass ich nie einen Vater, wie dass er nie einen Sohn hatte.“
Allerdings wurde der Text dennoch und mit einigem Recht als ein Werk mit starken autobiografischen Zügen gelesen. Burnside hat aber mehr als eine Autobiografie geschrieben. Er hat einen Text vorgelegt, in dem immer wieder der Status des Erzählten in Frage gestellt und ganz offensichtlich mit Verunsicherungen des Lesers gearbeitet wird, so dass am Ende die Frage steht, die hier schon vorweg genommen werden kann: Was ist Lüge, was die Wahrheit? Dies ist ein höchst kunstvoll komponierter, mit zahlreichen narratologischen Mitteln operierender Roman, der gleichwohl deutliche Reminiszenzen an die Lebensgeschichte des Autors Burnside aufweist.
Man kann den Roman als die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers John lesen, der in einfachen Arbeiterverhältnissen in Schottland und England aufwächst. Erzählanlass und gleichzeitig die fiktive Kommunikationssituation und Rahmengeschichte für den anschließend in der Binnenerzählung präsentierten Lebensbericht ist das Halloween-Fest des Jahres 2002. Der Ich-Erzähler trifft seinen alten Freund Mike, der wie nebenbei nach den Eltern und natürlich nach dem Vater fragt. Über die Antwortmöglichkeiten räsoniert der Erzähler dann einige Seiten lang, indem er erzählt, was er alles über seinen Vater hätte erzählen können. Er deutet die Gewaltausbrüche, die Gefühlskälte, Trunksucht und den Jähzorn des Vaters an und kommt zu folgendem Schluss: „Ich hätte ihm sagen können, dass ich wusste, zu behaupten, mein Vater habe mich verletzt und ich hätte Jahre gebraucht, mich davon zu erholen, ist zu einfach. Ich wusste – natürlich wusste ich es –, dass unsere Erzählungen nie so kompliziert sind wie das Leben.“
Die Wahrheit über seinen Vater will und kann der Ich-Erzähler also offenbar seinem alten Freund, von dem ohnehin annimmt, dass er ihn nicht wiedersehen wird, nicht offenbaren und erzählt stattdessen „Lügen über meinen Vater“.
Was dann in der Binnenerzählung folgt – die man sich freilich in der fiktiven Kommunikationssituation immer noch als Bericht gegenüber dem alten Freund Mike denken muss – ist die in lakonischer Sprache vorgetragene Geschichte einer Jugend und der jungen Mannesjahre, die geprägt sind von der tristen Arbeiterwelt des schottischen Cowdenbeath, vom hoffnungslosen Aufbegehren des Sohnes gegen den zerstörerischen Vater und der langsamen Auflösung einer Ehe, die all den äußeren Umständen und inneren Zerwürfnissen nicht standzuhalten vermag. Zeitgeschichtlich werden die 1960er-Jahre eingefangen, als die Familie nach Birmingham zieht und der Vater sich immer wieder bemüht, die ökonomische Situation der Familie zu verbessern, dann aber doch wieder im Alkoholrausch die Kontrolle über sein Leben und seine Familie verliert. Wir erfahren etwas vom kindlichen Bewusstsein des Ich-Erzählers, seinen Begriffen von Sünde und Strafe, die die duldende katholische Mutter ihm nahezubringen versucht und auch von der Trauer und Scham über ein Leben am sozialen Rand. Das Porträt des Vaters gerät hier auch zum Profil einer ganzen Männergeneration der Arbeiterklasse, für die „Grausamkeit eine Ideologie“ gewesen ist, ein Passepartout ländlicher und dörflicher Regionen, deren Sozialstrukturen vor allem dadurch gekennzeichnet sind, dass Gewalt- und Saufeskapaden nicht nur geduldet, sondern auch totgeschwiegen werden und in denen der „Alkohol ebenso eine Droge der Askese wie der Erlösung“ ist. In den 1970er-Jahren findet John Auswege aus der tristen Alltagsrealität in Form von Drogenkonsum und auch einem zeitweiligen Abdriften in die Kriminalität, was wiederum zu weiteren Konflikten mit dem Vater führt.
Sind das aber nun die Lügen über den Vater, die der Ich-Erzähler John in der Rahmenhandlung seinem Freund Mike präsentieren wollte? Ist das nicht gerade der grausame Vater, der Gewalttätige, der Alkoholiker, von dem er eben nicht erzählen wollte? Wohl nur auf den ersten Blick. Denn der offensichtlich für den Sohn völlig fremden Figur des Vaters wird hier eine Geschichte verliehen, die selbst eine Geschichte von schmerzhaften Verletzungen und Demütigungen ist. Ihr Wahrheitsgehalt wird zwar vom Erzähler immer wieder selbst in Frage gestellt. Doch in diesen Lügen und Geschichten ist die Wahrheit über den nur zerstörenden Vater abgeschwächt und damit die Grundlage für ein – wenn auch erlogenes und erdichtetes – Verstehen oder auch nur eine Sinngebung für ein verspieltes Leben gegeben: „Mich überrascht auch heute noch, dass man Trunksucht für eine Form der Zügellosigkeit, ein Vergnügen oder Laster halten kann, wenn es doch für Männer wie meinen Vater – und für Männer wie mich – ein Instrument der Selbstverleugnung ist. Der wahre Trinker trinkt nicht, weil er sich berauschen will, so wenig wie der echte Spieler um des Geldes willen spielt: Alkohol, Spielsucht, Drogen, dabei geht es um spirituelle Übungen, um eine perverse, hausgemachte via negativa, auf der ihre Gefolgsleute ohne Hoffnung und Verlangen einer selbst verantworteten Hölle entgegeneilen.“
Der Erzähler geht davon aus, dass das Leben undendlich kompliziert ist, viel komplizierter „als unsere Geschichten“. Das mag eine mögliche Erklärung für die vielen mehrdeutig auslegbaren Leerstellen in der Geschichte des Vaters sein. Anders gesagt: Die zahlreichen Hinweise auf und das Spiel mit einer potentiellen unzuverlässigen Erzählweise soll narratologisch die Grundüberzeugung des Erzählers veranschaulichen und abbilden, dass das (Nach-)Erzählen dem komplexen Leben im Grunde nicht gerecht wird. Dabei werden Erinnerungskonzepte neu bewertet: Nicht was gewesen ist zählt, sondern das, womit unsere Erinnerung fertig wird: „Woran wir uns erinnern, sobald wir uns wahrhaft erinnern – also nicht, wenn wir uns jene Bilder ins Gedächtnis rufen, die uns von anderen eingepflanzt wurden –, ist das einzige Zeugnis, dem wir trauen können, nicht weil es präzise wäre, sondern weil es unser Ureigenes ist. Ein Foto, eine Familiengeschichte, die Erinnerungen eines alten Verwandten auf einer Hochzeit oder einer Beerdigung, Rückblicke in eine Zeit, in der niemand der Anwesenden auch nur geboren war, sind keine Fakten, sondern Artefakte.“
Und diese mögliche Annäherung an den Vater, wenn sie auch auf Erdichtetem beruht, birgt in sich die Möglichkeit der Vergebung, die am Ende der auf den letzten Seiten wieder aufgegriffenen Rahmenerzählung steht: „Irgendwann kramen wir dann Bilder vor, wenn sie am dringendsten gebraucht werden, Bilder, von denen wir nicht wussten, dass wir sie in uns trugen, und wir lesen in sie hinein, was wir können: eine Geschichte, eine Lüge, einen Traum, ein Leben. Die Erinnerung, die mir dieses Halloween kommt, zeigt meinen Vater nicht als den brutalen, unglücklichen Säufer, den ich so gut kannte, jenen Mann, der seine Tage in einem konfusen Nebel verbrachte und sich verwundert fragte, wer für seine Inkonsequenz verantwortlich war, sondern jemanden, auf den ich früher, damals in Cowdenbeath, einen Blick erhascht haben musste. Wichtig ist, dass ich ihn wieder sehen kann, in seinem weißen Hemd, und ich begreife, dass er anders ist als der Mann, den ich töten wollte. Ich weiß, es muss einen ungewöhnlichen Anlass dafür geben, dass er sich dort draußen aufhält, vielleicht einen, den ich falsch verstanden habe – in meiner Erinnerung bin ich etwa vier, fünf Jahre alt –, doch entscheidend ist, dass ich mich exakt auf diese Weise an ihn erinnere, ist er doch der Vater, dem ich vielleicht vergeben könnte. Ich weiß, ebenso entscheidend ist es, sich an all das Schlimme zu erinnern, das er uns angetan hat, all das sinnlose Leid, das er über seine Familie brachte, doch nun, da ich selbst Vater bin, sehe ich diesen Mann vor meinem inneren Auge: ein Mann allein, am Rand der Dunkelheit, der lauscht, sich selbst vergisst und sich unbeobachtet glaubt.“
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