Bilderort Paris

Paris ist ein Fotobuch wert: Eine Hamburger Ausstellung und ein voluminöser Band versuchen sich an einer Bestandsaufnahme

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Metropolen haben als Reise- und Sehnsuchtsort einen gesicherten Stand: London, Berlin, New York und Paris haben dabei eine moderne Tradition begründet. Wer nach London will, sucht die Stadt der Popmoderne, Berlinreisende wissen um die stetige Neudefinition der Stadt, New York ist das Zentrum der Welt und Paris die Metropole der Erotik. Bilder werden mit Städten verbunden, und es ist die Beständigkeit dieser Bilder, die eigentlich erstaunlich ist. Denn die Städte selbst haben sich in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten massiv verändert, und tun dies auch heute.

„Als Metapher ist Paris erstaunlich stabil“, bemerkt denn auch Hans-Michael Koetzle, der eine derzeit in Hamburg stattfindende Ausstellung zum Fotobuch über Paris kuratiert hat und den dazugehörigen, jetzt bei Hirmer erschienenen Band betreute, in seiner informativen und weit ausholenden Einleitung. Und er begründet dies nicht zuletzt damit, dass sich vor die Lebenswirklichkeit dieser großen Stadt mittlerweile eine „mächtige Ikonografie“ geschoben habe.

Die Fotografie spielt bei diesem Prozess eine zentrale Rolle. Denn das internationale Paris-Bild lebt nicht von der Anschauung, sondern von den zahlreichen literarischen und visuellen Beiträgen, die über die vergangenen zwei- bis dreihundert Jahre zusammengetragen worden sind und die immer weiter fortgeschrieben werden. Das Paris-Bild, das wir kennen, ist vom Blick von außen geprägt. Wie die in Paris lebenden Franzosen von ihrer Stadt denken – wer weiß das schon? Und wo kann man davon erfahren?

Seit dem frühen 19. Jahrhundert hat die Fotografie ihr Scherflein zu den Paris-Bildern beigetragen, und mittlerweile ist dieser Beitrag wohl dominant. Zahlreiche fotografische Ikonen sind dabei entstanden, in der Gesamtschau ist dieses Paris-Bild von einem Programm bestimmt, von einer Hierarchie der urbanen Sujets, wie Koetzle betont. Zu diesen Sujets wird man jedoch nicht nur die architektonischen Merkmale der Stadt zählen, sondern auch die zahlreichen, in ihrer Vielfältigkeit sich wiederum zu Mustern zusammensetzenden sozialen Bilder.

Paris bei Nacht, das Paris der Prostitution, der Liebe und der Intimität, das Paris der kleinen Leute, das Paris der Hallen, der Straßen, Boulevards und Cafés, das Paris der architektonischen Ikonen – es ist ein Ensemble von Bildern und Mustern, aus denen das Bild der Stadt zusammengesetzt ist.

Und es kann kaum erstaunen, wenn der reale Paris-Besucher diesen Bildern zu folgen versucht und notwendigerweise enttäuscht wird. Davor können sich auch die professionellen Paris-Bildermacher nicht schützen: Koetzle beginnt seinen Essay mit einer Bemerkung der Fotografin Ursula von Kardoff, für die sich Paris zwischen 1964 und 1974 mehr verändert habe als in den hundert Jahren zuvor.

Originalität habe es verloren, Charme und Schönheit – welcher Stadt aber wäre das anders gegangen, gerade in jenen Jahren, in denen die Moderne sich nicht nur habituell durchsetzte, sondern auch – was den Massenkonsum und Wohlstand angeht – breite Bevölkerungsschichten erreichte? Und wer würde sich die alten Zeiten zurückwünschen? Den Dreck, die Armut, die sozialen Konflikte, den Zerfall?

Nichts davon lässt sich völlig zum Verschwinden bringen, aber was davon in der Fotografie und im Paris-Bild zum Charme- und Schönheitsgaranten wird, darf ruhig untergehen – kann man zumindest hoffen.

Außerdem hält Fotografen bis heute nichts davon ab, auf die Suche nach den ,Restbeständen‘ des alten Paris zu gehen. Die Paris-Metapher ist in der Tat äußerst stabil. Es bleibt eine interessante Stadt, eine große Stadt, eine Stadt mit einer Atmosphäre, die immer noch nicht von den Touristenschwärmen erstickt worden ist.

Obwohl die sich die größte Mühe geben, denn Paris leidet wie die meisten attraktiven Städte des Kontinents unter den anstürmenden Menschenmassen mit Bildungshunger: Rom, Berlin, London, Paris, Prag, Amsterdam, Wien oder Florenz. Die europäischen Städte sind voll von Menschen, die auf der Suche nach einer Stadt sind, die sie vor allem aus Reiseführern, TV-Sendungen, Illustrierten oder Romanen kennen.

Die Säle des Louvre leer zu erleben, wie Candida Höfer sie zeigt – unerhört, weil das eben heute für den normalen Besucher unmöglich geworden ist. Die Straße und Plätze von Paris menschenleer? Gespenstisch und surreal (was wiederum gut zu Paris passt).

Aber dieses Privileg hat das Fotobuch, unabhängig davon, in welchem Zusammenhang es erscheint. Viele der im neuen Jahrtausend erschienenen Fotobücher zu Paris sind Rückschauen auf ein Lebenswerk, viele sind von den Erfahrungen der 68er geprägt, kalt und manchmal noch ein wenig sozialromantisch, einige wagen immer noch den touristischen Blick, der sich selbst in der Praxis aufzuheben scheint.

Mit dem realen Leben vor Ort hat das alles nichts zu tun, wie das alle sagen können, die in den großen Städten leben. Das Leben wird um die touristischen Orte herum gelebt und um die, die sie bevölkern. Anders wäre auch die Vitalität dieser Orte nicht zu denken.

Nun ist das nicht die Sache des Fotobuchs, das ja vor allem eine Aufgabe hat: das Bild der Stadt überhaupt erst herzustellen (was hier gegen Koetzles beiläufige Bemerkung in der Einleitung betont wird). Dabei befindet es sich nicht in Konkurrenz zu anderen Medien, etwa den Illustrierten oder den audiovisuellen Medien. Es ergänzt sie auf eigensinnige Weise. Was in den vielfältigen Tagesmedien immer aufs Neue hervorgebracht und präsentiert wird, gerinnt in ihnen in einer ersten Stufe, mit der Muster gebildet werden. Fotobücher sind vielleicht nicht das primäre Sozialisationsmedium, wenn es um Städtebilder geht. Reiseberichte etwa gehen ihnen voran (vergleiche dazu etwa den Sammelband von Gerhard Kaiser und Erika Tunner zum Parisreisebericht oder die Publikationen zu den Reiseberichten unter anderem zu Paris von Wolfgang Asholt, Walter Fähnders, Wolfgang Stephjan Kiesel und Wolfgang Klein), Reportagen und Reiseführer folgen ihnen.

Aber Fotobücher haben eine stark kodifizierende Wirkung. Der Einfluss der 1920er- und 1930er-Jahre auf die Ikonografie der Stadt Paris macht das deutlich. Die Bilder der Stadt, die in diesen, für die Kunst- wie Gesellschaftsgeschichte gleichermaßen bedeutsamen Jahren entworfen wurden, wirken bis heute nach. Und zwar in allen Medien, in denen Bilder dieser Art aufgenommen, wiederholt und modifiziert werden. Unser Paris ist das der 1920er-Jahre.

Gerade diese Erfahrung macht den Blick auf die neueren Fotobücher zum Thema Paris umso interessanter. Denn wenn die 1920er- und 1930er-Jahre als Experimentaljahre der Moderne zu verstehen sind, welche Rolle wird den Spätmodernen wie William Eggleston, Jarret Schecter, Pierre Jouve, Höfer oder Moulin zukommen? Arbeiten sie heute bereits am Parisbild der nächsten fünfzig Jahre? Wir oder unsere Nachfolger werden das sehen – nur: wir sind Teil dieses Prozesses.

Aber zurück zum Band, den Koetzle zusammengestellt und kommentiert hat. 130 Fotobücher zu Paris sind auf mehr als 400 Seiten vorgestellt. Umschlag und Innenseiten werden mit repräsentativen Abbildungen vorgestellt – und repräsentativ meint hier eben vor allem, dass sie einen angemessenen Eindruck von der Gestaltung der Fotobücher zu geben verstehen. Wer es also groß will und schön, der ist mit diesem Band bestens bedient, der schon haptisch beachtlich und athletisch eine Herausforderung ist.

Die Autoren und Arbeiten werden in knappen Texten erläutert, mit denen das einzelne Werk in die Werkbiografie des Fotografen wie in die Fotogeschichte oder in die Geschichte des fotografischen Paris-Bildes eingeordnet werden kann. Die Anordnung ist chronologisch, was dabei hilft, sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie sich das Paris-Bild verändert, aber eben auch, wie sich Präsentationsformen von Fotobüchern ändern. Dabei spielen die direkten Nachkriegsjahre ebenso eine außergewöhnliche Rolle wie die Jahre der Besatzungszeit. Müssen sich Publikationen der Jahre unter deutscher Oberhoheit jeden Propagandavorwurf gefallen lassen, leben die direkten Nachkriegsjahre eben auch davon, dass sie die wiedergewonnene Freiheit und Offenheit feiern dürfen. Das mag zu Lasten der Kunstfertigkeit gehen, aber der Kunstcharakter gerät unter solchen Rahmenbedingungen eh zum Vorwurf und nicht zur Forderung. Gerade die Fotografie weiß sich davon nötigenfalls ja auch zu befreien.

Beiträge von Hans Christian Adam zum frühen Fotobuch (das im Band selbst nicht präsentiert wird), von Thomas Wiegand zur Rolle der musealen Begleitung der Fotogeschichte und von Christoph Schaden zu den Fotobuchreprints ergänzen den Band, wobei dem Beitrag von Christoph Schaden wohl besondere Bedeutung für die Wertsteigerung von Fotobüchern zukommt: Er zeigt nämlich nicht nur auf, welche Änderungen die Produzenten von Reprints von Fotobüchern vornehmen. Er bezieht dabei auch Position (wenn nicht Partei), und zwar regelmäßig für die Originalausgaben. Dem kann man sich anschließen oder verweigern, da seine Beispiele aus dem Fundus des Bandes entnommen sind, aber vielleicht wäre es hilfreicher, die Gründe für die Änderungen und Abweichungen zu präsentieren.

Titelbild

Hans-Michael Koetzle (Hg.): Eyes on Paris. Paris im Fotobuch 1890 bis heute.
Hirmer Verlag, München 2011.
421 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783777441313

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