„Der nackte Mensch“
In seinen drei Romanen „Tropenkoller“, „Das Haus am Kanal“ und „Der Mann aus London“ geht Georges Simenon den „Quellen des Bösen“ nach
Von Behrang Samsami
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWie vielleicht keinem anderen Schriftsteller ist es dem Belgier Georges Simenon (1903-1989) gelungen, im Stil einfach und knapp zu bleiben und zugleich eine enorme atmosphärische Dichte herzustellen. Das zeichnet nicht nur seine Krimis um den Pariser Kommissar Maigret aus, sondern auch die „harten Romane“, wie der Autor seine über hundert „Non-Maigrets“ genannt hat. In ihnen behandelt er in der Regel das Schicksal einer Figur, die mit ihrem unspektakulären Leben nicht zufrieden ist und daher jede Chance ergreift, daraus auszubrechen – und dafür auch menschliche Opfer in Kauf nimmt.
Dies gilt auch für Simenons „Tropenkoller“, „Das Haus am Kanal“ und „Der Mann aus London“, die der Diogenes Verlag im Rahmen der „Ausgewählten Romane“ des Autors neu veröffentlicht hat. Seit Herbst 2010 erscheinen dort sukzessive 50 „Non-Maigrets“ in chronologischer Reihenfolge ihrer Niederschrift und in revidierten Übersetzungen. Dabei gehören die drei genannten Titel, abgesehen von „Die Verlobung des Monsieur Hire“, zu den frühesten „harten Romanen“ des belgischen Schriftstellers. 1933 und 1934 publiziert, stellen sie dar, was Simenon zu zeigen beabsichtigt hat: „l’homme nu“, den „nackten Menschen“.
Dem Leser wird die jeweilige Hauptfigur schnell vertraut, und zwar dadurch, dass Georges Simenon immer wieder die Perspektive des Protagonisten einnimmt und dessen Gedanken, Hoffnungen und Ängste enthüllt. Das von ihm entworfene Psychogramm ist zugleich eine präzise, plastische Milieustudie voller Menschenkenntnis. Eine, die die Fassaden bürgerlichen Lebens durchleuchtet, um die Kräfte zu offenbaren, die die dargestellten Durchschnittspersonen antreiben.
Simenons Welt ist hart und gefühlskalt, egoistisch und deterministisch. Das zeigt sich bereits in „Tropenkoller“, das nach einer Afrika-Reise im Jahre 1932 entstanden ist: Der aus dem Großbürgertum stammende Joseph Timar, Anfang Zwanzig, dem im Mutterland alle Möglichkeiten freistünden, nutzt einen Kontakt seines Onkels, um im von Frankreich beherrschten Gabun als Plantagenaufseher und Händler zu arbeiten. Dort angekommen, verliert er aber rasch seinen Ehrgeiz und verfällt in Lethargie. Es sind einzig seine Gefühle für Adèle, der undurchsichtigen Ehefrau eines ebensolchen Hotelbesitzers, die ihn „wach halten“. Nach dem mysteriösen Tod eines schwarzen Kellners und ihres Gatten findet sich plötzlich die Gelegenheit, zu zweit ins Landesinnere zu ziehen und eine gemeinsame Zukunft zu planen. Doch lange dauert diese nicht.
„Tropenkoller“ beschreibt eine „negative Bildungsreise“. Denn nicht nur kehrt Joseph Timar am Ende als ein gänzlich anderer, desillusionierter Mensch wieder in seine Heimat zurück. Durch seine realistische, dabei sehr filmisch gestaltete Erzählung entzaubert Georges Simenon auch die klischeehaften Vorstellungen von den Kolonien: Der Protagonist erlebt eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der die Weißen über die Schwarzen herrschen, sie ökonomisch und sexuell ausbeuten.
Der Außenseiter Timar beobachtet die anderen Weißen und erschrickt vor ihrem ungerechten Umgang mit den Einheimischen. Diese glauben, die Schwarzen nicht als gleichwertige menschliche Wesen behandeln zu müssen. Die Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, die in der Heimat propagiert wird, ist für sie in den Kolonien gegenstandslos. Es gilt, so lernt der Protagonist, die Führungsposition der Franzosen in den besetzten Gebieten aufrecht zu halten – notfalls auch mit Gewalt.
Gleichzeitig wird aber auch an Joseph Timar selbst aufgezeigt, welche schlechten Einflüsse der Aufenthalt in den Kolonien hat. Der Roman erinnert an Joseph Conrads Erzählung „Herz der Finsternis“ (1899), zeigt er doch auf, wo die „Quellen des Bösen“ im Menschen liegen: Timar lässt sich wie die anderen gehen. Anfangs enthusiastisch, stumpft er bald ab. Er ist ständig schlapp und beginnt, immer mehr Alkohol zu trinken. Nach einiger Zeit benimmt er sich selbst brutal – alles soll sich Adèles und seinem Ziel unterordnen.
Sich mit ihren Wünschen durchzusetzen, gleich für welchen Preis, gilt auch für Edmée, die Hauptfigur des zweiten Romans „Das Haus am Kanal“. Charakterlich stärker als Joseph Timar, muss die 16-jährige Halbwaise nach dem Tod auch ihres Vaters, eines Mediziners, Brüssel verlassen und notgedrungen aufs Land zu ihren Verwandten ziehen. Diese haben ebenfalls einen Todesfall zu verarbeiten: Am Tag von Edmées Ankunft stirbt der Hofbesitzer und hinterlässt seiner Familie ein schwieriges Erbe. Die junge Verwandte aus der Stadt ist aber nur wenig gewillt, sich zu integrieren. Sie fühlt sich den anderen überlegen und möchte so schnell wie möglich in die Hauptstadt, um zu studieren.
Als sie jedoch bemerkt, welche Macht sie auf die beiden Söhne ihrer Tante, der Schwester ihrer Mutter, ausüben kann, söhnt sich mit ihrer Situation aus. Anfangs nähert sie sich dem 19-jährigen Jef an, bittet den Eigenbrötler, das eine oder andere (Unrechte) für sie zu tun, was dieser knurrend, aber dann doch folgsam erledigt. Fred, Jefs 21-jähriger Bruder, ein Lebemann, der kaum in der Lage ist, das Gut zu leiten, findet später ebenfalls Gefallen an seiner spröden Cousine.
Wie in „Tropenkoller“ erzählt Simenon auch in „Das Haus am Kanal“ die Geschichte eines Menschen, der über seine Lebensumstände wenig glücklich ist und eine Möglichkeit sucht, etwas Besonderes zu erleben, um dem tristen Alltag zu entkommen. Das Dasein in der Provinz ist denn auch tatsächlich eintönig, wenig freudvoll und ziemlich arbeitsreich. Edmée, die sich langweilt, sät Verwirrung, Zwist, ja Hass in der Familie, um sich zu unterhalten. Sie, die zur selben Zeit ihre Sexualität entdeckt und zu einer erwachsenen Frau wird, setzt dabei aber Kräfte in Bewegung, die später außer Kontrolle geraten.
In den beiden genannten Romanen ist das „Böse“ sexuell konnotiert. Die Figuren scheinen wie Gefangene ihrer Stimmungslagen: Entweder lassen sie sich treiben, sind paralysiert und einfach ignorant. Oder sie werden von ihren Leidenschaften angetrieben und handeln, ohne über die Folgen nachzudenken. Simenons Geschichten wirken dadurch sehr düster: Das Unglück ist absehbar, ein Entkommen aber nicht möglich.
Im dritten Roman, „Der Mann aus London“, wird dies fast auf die Spitze getrieben. Maloin, der Rangiermeister im Hafenbahnhof von Dieppe, Ehemann und Vater zweier Kinder, führt ein unaufgeregtes Leben. Der Kleinbürger, dessen Arbeit seit fast dreißig Jahren nach dem Abendbrot beginnt und frühmorgens vor dem Frühstück endet, wird eines Nachts jedoch von seiner Glaskabine aus Zeuge eines Streites zwischen zwei Männern, von denen der eine eben mit dem Schiff aus England angekommen ist und dem anderen einen Koffer zugeworfen hat. Der Mann aus London schlägt seinen Komplizen später zu Tode, kann aber nicht verhindern, dass jener den Koffer noch an sich reißt, bevor er ins Wasser fällt.
Maloin schreitet indes nicht ein, geschweige denn, dass er die Polizei ruft. Das Schicksal des Getöteten berührt ihn nicht. Er taucht im Gegenteil später ins Meer, um den Koffer zu suchen, den er auch findet und in seinem Schrank einschließt. Das Motiv, weshalb er das Geld, das er im Koffer entdeckt, nicht aushändigt, sondern behält, wird angedeutet: Es scheint das Außergewöhnliche zu sein, das ihm widerfahren ist. Vor allem aber gibt ihm das Geld die Möglichkeit, ein Hochgefühl gegenüber den Verwandten seiner Ehefrau zu empfinden, gegen die er sich bisher zurückgesetzt gefühlt hat.
Der Wunsch nach Geld und Sozialprestige bringt den Protagonisten in eine gefährliche Lage: Er liefert sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem Engländer und nimmt in Kauf, dass sich die Polizei später auch für ihn interessiert. Was „Der Mann aus London“ mit den beiden ersten Romanen gemeinsam hat, das ist die Passivität und Stumpfheit der Hauptfigur. Wider besseren Wissens nimmt Maloin die Geschehnisse hin, anstatt einzugreifen und mitzuhelfen, den Fall aufzuklären. Es entsteht sogar der Eindruck, als begrüße er das eigene Unheil, das sich dann peu à peu vollzieht und auch auf seine Familie ausweitet.
In Erinnerung an die drei Romane bleibt letztlich jedoch weniger der fatalistische Zug als vielmehr die jeweilige Milieuschilderung und die Darstellung von sehr unterschiedlichen Figuren. Es gelingt Simenon, seine Hauptfiguren genau zu „röntgen“ und ihre jeweiligen Motive offen zu legen. Joseph Timar, Edmée und Maloin stehen so am Schluss „nackt“ da. Sie sind negative „Helden“, die tragisch enden müssen, weil alle drei Schuld auf sich laden – durch ihr Tun wie durch ihr Nichttun.
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