Das Land hat keine Chance
David Grossmans Israelroman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ ist ein Panorama der Positionen und Befindlichkeiten
Von Andreas Thamm
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseOktober 1973: Ägypten und Syrien marschieren über den Sinai und die Golan-Höhen in Israel ein. Der „Jom-Kippur-Krieg“ dauert keine 20 Tage; die israelische Armee drängt die Militärs der beiden arabischen Staaten zurück und erwirkt den israelisch-ägyptischen Friedensvertrag. Avram, der stille Held in David Grossmans „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“, hat der Krieg beziehungsweise die ägyptische Kriegsgefangenschaft traumatisiert, sein Sohn Ofer fährt über 20 Jahre später zu einem Einsatz im Westjordanland.
Zwischen dem Krieg, der Avram kaputt gemacht hat und dem Krieg, der in Israel ununterbrochen schwelt und ausbricht, hat Grossman seinen Roman angesiedelt. Es ist die Geschichte von Ora, die vor der hypothetischen Todesnachricht Ofers nach Galiäa flieht und Avram, den diese Flucht zurück ins Leben holt. Außerdem ist es die Geschichte Israels, die Geschichte vom „großen, ewig wirkenden Konflikt.“ David Grossman erhielt für „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2010, noch vor Abschluss des Romans verlor er seinen Sohn bei einem Militäreinsatz im Libanon.
„Zum Überbringen einer Nachricht braucht es immer zwei, einen, der sie bringt und einen, der sie entgegen nimmt, und deshalb kann sie nicht überbracht werden.“ Ora flieht; der deskriptive Titel verrät es ohnehin. Außerstande, sich weiterhin der unerbittlichen Logik der Welt zu stellen, beschließt sie, diese zu negieren – wenn es niemanden gibt, dem vom Tod ihres Sohnes zu berichten wäre, kann Ofer auch nicht umkommen. Für die Geschichte, die David Grossman erzählt, gibt es auf der Welt wohl nur ein mögliches Setting, der ewige Streit um das Existenzrecht Israels holt auch jene Bewohner ein, die sich dem zu entziehen versuchten, es drängt in ihre Realität.
Natürlich ist Grossmans großer Roman keine Thesensammlung, kein politischer Essay. Viel eher handelt es sich um die uralte literarische Verquickung von Krieg und Liebe. Oras therapeutisches Pilgern durch Galiläa ist die Basis einer Geschichte, in der die Zeit- und Erzählebenen sich verflechten und verschränken, in der das Sprechen ins Erinnern überfließt, politische und individuelle Zeitgeschichte gegenwärtig wird. Grossmans Figuren wirken zunächst wie exemplarisch, wie Scheinwerfer, mit deren Hilfe er israelischen Alltag, israelische Positionen beleuchtet. Der Statthalter der Versöhnung, Sami, der palästinensische Taxifahrer von Ora und deren Mann Ilan, verschwindet leider noch in der ersten Hälfte des Buches und taucht nicht mehr auf.
Auch der Nahost-Konflikt verschwimmt hinter der privaten, familiären Tragödie. Als Begleitung auf der Flucht vor einer Nachricht holt Ora Avram aus seiner Wohnhöhle. Der früher wortverliebte Schelm ist seit der ägyptischen Folter ein Zerstörter; seinen Sohn Ofer hat er nie gesehen, jetzt holt Ora ihn mit dessen Geschichte, mit den kleinen Anekdoten von ihm und seinem Bruder Adam, zurück ins Leben. „Plötzlich begreift sie,“ heißt es da „dass sie vielleicht genauso große Angst vor dem Erzählen hat, wie er vorm Zuhören.“ Denn bis die beiden sich nach langem Schweigen wieder gegenseitig annähern können, braucht es einen schleichenden Prozess.
Und dieser Prozess braucht Raum. 728 Seiten hat die deutsche Übersetzung. Dass das ein paar Hundert zu viel sind, mit dieser Annahme beginnt man den Text vielleicht zu lesen; und das ist natürlich schädlich. Über 700 Seiten bedürfen einer überzeugenden Legitimation, und die Komplexität des israelisch-palästinensischen Konflikts einerseits, sowie das Beziehungsgewirr in Oras Leben andererseits, scheinen dem Genüge zu tun. Später steigert sich Grossman aber in eine derart redundante Gedankenschleife hinein, dass die Beziehungen hyperreflektiert dargestellt werden.
Dennoch ist Oras und Avrams Reise durch ein Land, in dem es kein Entkommen vor ungebetenen Erinnerungen zu geben scheint, reich an Poesie und Erkenntnis. Grossman scheut weder große Konzepte noch große Worte, schlägt die Brücke von den Neurosen Adams über die generelle Frage des Exils bis zur der nach der Zukunft Israels: „Wenn du das alles mit kühler Logik überlegst, flüstert sie, ohne Illusionen, wenn du nur Zahlen und historische Tatsachen berücksichtigst, hat dieses Land keine Chance.“
Für „kühle Logik“ freilich bleibt in dem Kosmos, den Grossman schildert, nicht viel Platz. Das eigentlich Topos seines Romans, die Zerstörung jugendlich-romantischer Naivität durch die Realität eines sich im dauerhaften Krieg befindenden Landes, ist ganz ohne Kitsch vielleicht nicht zu behandeln, oder zu ertragen. Sätze wie: „Einsamkeit schließt sich um sie, der Keller ihrer Einsamkeit als Kind“ oder: „Eine große Brandung der Sehnsucht zerschellt zwischen ihnen“ wirken wie zufällig eingestreute Elemente eines Groschenromans inmitten einer großen Erzählung. Allein der Umfang lässt sie jedoch fast verschwinden.
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