Der Kopf der editorischen Leidenschaft
Über Rolf Tiedemanns Buch „Adorno und Benjamin noch einmal“
Von Robert Zwarg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAn keiner Figur hat die postmoderne Philosophie so sehr Anstoß genommen wie an der Person des Autors. Er sollte nicht mehr sein als ein strategischer, funktionaler Knotenpunkt in einem Netz von Diskursen. Jedoch hatte diese Denkbewegung auch gute Gründe vorzuweisen. Ohne Zweifel prägt die imaginierte Figur des Autors die Lektüre, führt oft genug zu Kurzschlüssen und dispensiert von der Strenge des Arguments, wenn nur der richtige Name fällt. Dennoch ist die Ablösung des Textes von seinem Urheber stellenweise zur modischen Attitüde verkommen und die Schrift aller historischen Bestimmung entkleidet worden. Gänzlich unzeitgemäß und in seiner Gegenläufigkeit damit umso sympathischer ist dagegen Rolf Tiedemanns Buch „Adorno und Benjamin noch einmal. Erinnerungen, Begleitworte, Polemiken“, erschienen 2011 in der edition text+kritik. Unzeitgemäß ist das Buch schon allein deshalb, weil hier nicht nur ein Kritiker und Philosoph, sondern auch ein Philologe schreibt. Wo immer die Krise des Buches beschworen wird, wirkt die Editionsphilologie wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Nicht zu seiner Zeit zu passen scheint das Buch aber vor allem deshalb, weil es sich bei dem Band, dessen Gestaltung in Satz und Einband nicht zufällig an die viel zu wenig gelobte Reihe „Dialektische Studien“ im selben Verlag erinnert, um mehr als bloß eine Sammlung von Texten aus über 40 Jahren handelt. Es ist mehr als eine beeindruckende Dokumentation von Tiedemann, im Rahmen seiner Herausgebertätigkeit für die Schriften Walter Benjamins und Theodor W. Adornos entstandenen Vor- und Nachworte, kurz gesagt: mehr als eine jener willkürlich zusammengewürfelten Aufsatzsammlungen, zu deren Veröffentlichung die Regeln des Wissenschafts- und Literaturbetriebs immer wieder drängen. „Adorno und Benjamin noch einmal“ lässt nicht nur die beiden Personen, denen Tiedemann einen Großteil seines Lebens widmete, Gestalt gewinnen, sondern auch den real existierenden Autor, dessen Geschäft und Leidenschaft die Kritik und Philologie waren, lebendig werden. Und nicht zuletzt nehmen Tiedemanns Aufsätze etwas von der Selbstverständlichkeit, mit der man als Leser die Bücher von Walter Benjamin oder Theodor W. Adorno aufschlägt und einen geordneten und kommentierten Text vor sich hat; von den einmal aufgewandten Mühen, die man dem fertigen Produkt nicht mehr ansieht, wird in „Adorno und Benjamin noch einmal“ einiges spürbar.
Das Dokumentarische an „Adorno und Benjamin noch einmal“, gleichsam der Eindruck eines Rechenschaftsberichts am Ende eines langwierigen Projektes, legt einen durchaus persönlichen und nicht selten auf Abschied gestimmten Ton in die Aufsätze. Die Überschrift „Erinnerung und Abschied“, unter der die ersten vier Texte versammelt sind, trägt dazu bei. Dass hier also nicht nur Texte sprechen, sondern auch ein Autor, darauf stimmt vor allem der einzige bisher unveröffentlichte Essay ein: Eine lange, doppelt biografische Erinnerung unter dem Titel „Lehrjahre mit Adorno“. Doppelt biografisch, weil es nicht nur um das Bild Adornos aus der Perspektive eines Zeitgenossen und Vertrauten geht, sondern auch um den Vertrauten selbst. In ersterer Hinsicht begeben sich solche und ähnliche Texte in die Gefahr, einen Voyeurismus zu bedienen, einen neugierigen Blicks ins Private, von dem frei zu sein, sich wohl kaum jemand rühmen kann.
Wo dieser sich so sehr Bahn bricht, dass das Wort verschwindet oder das Leben dafür herhalten muss, Fragen des Werks zu lösen, darin hat die Kritik an der Figur des Autors durchaus ihr Recht. Tiedemann, der von Benjamin weiß, dass der Gebrauch der ersten Person Singular dem Stil schadet, widersteht dieser Versuchung nicht nur durch sorgsames Manövrieren und den periodischen Rekurs auf die Autorität des Geschriebenen, sondern gerade durch die zweite biografische Ebene. Hier wird weniger verraten, was nur der enge Vertraute wissen kann, weniger entschlüsselt oder entschleiert, vielmehr ist es die Perspektive Tiedemanns die als erklärende und vielleicht notwendig auch verklärende Instanz fungiert.
Wo letzteres geschieht, scheint Tiedemann sich dessen durchaus bewusst zu sein. Auch blinde Gefolgschaft eines Schülers, die man den Teilhabern von distinkten Denktraditionen gern vorwirft – die Zugehörigkeit zu einer „Schule“ kann sowohl Ehrerweis als auch vorauseilende Relativierung des eigenen Standpunkts sein –, sind Tiedemann nicht vorzuwerfen. Wo beispielsweise Adornos politische Naivität in Bezug auf die Anfänge des Nationalsozialismus zur Sprache kommt, ist Tiedemann klar und bestimmt. Reflektierte Treue nicht nur zur vertrauten Personen, sondern vor allem zu deren Texten – das wäre vielleicht die bündigste Beschreibung von Tiedemanns Verhältnis zur Kritischen Theorie.
Dass Kritik, verstanden im emphatischen, also über den Text hinausgehenden Sinne, und Philologie überhaupt eine Verbindung eingehen können, ist auch Tiedemann nicht selbstverständlich. Vorangestellt ist dem Buch ein Zitat Adornos: „Philologie ist verschworen mit dem Mythos: sie versperrt den Ausweg.“ Die Aufgabe, die Schrift dem Mythos zu entreißen, sei, so Tiedemann, „natürlich nicht gelöst, doch Arbeit und Anstrengung des Begriffs an sie gewandt zu haben, wird man dem Autor zugestehen müssen“. Dafür legt die Dokumentation von Tiedemanns Schriften Zeugnis ab. Sie folgen durchweg zwei Impulsen: Zum einen dem Wille zur Entdinglichung, also zur Animierung des Wortes dort, wo der philologische oder auch der gebräuchliche wissenschaftliche Zugriff das Wort zum Baustein macht, das hier hin wie dort hin verschoben werden und mit diesem oder jenem anderen Baukasten kombiniert werden kann; zum anderen dort, wo die Mythisierung den Text noch einmal einer doppelten Verdinglichung unterworfen hat, als Spielball von Interessen und Leidenschaften, der Rückverweis auf Macht und Autorität der Quelle.
Zu Recht stehen diejenigen Interventionen, die sich mit Streitfragen philologischer und rechtlicher Art befassen unter der Überschrift „Polemiken“. Sei es im Streit um den Umgang des Suhrkamp Verlags mit den Rechten und Tantiemen von Benjamins Schriften oder die periodische geäußerte Kritik an den Herausgebern der ersten Ausgabe von Benjamins Gesammelten Schriften, Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser: in beiden Fällen leben die Texte nicht nur vor einem pointierten, gleichsam kriminalistischen Umgang mit Quellen, aus denen Beweise und Indizien für das Argument werden, sondern auch von einer Leidenschaft, die zeigt, dass es hier jemandem nicht nur um Rechthaberei oder die Verteidigung seiner Person geht (wenngleich auch dies verständlich wäre).
Wer sich nicht selbst der minutiösen Quellenarbeit widmet, in solidarischer oder kritischer Absicht, wem das detektivische Gespür für die Verknüpfung unterschiedlichster Hinweise und Dokumente fehlt, der ist freilich gezwungen, die Tatbestände, die Tiedemann präsentiert, hinzunehmen. Doch Tiedemann versteht es, philologische Zusammenhänge so aufzuarbeiten, dass ihnen eine Schwerkraft zur Wahrheit hin eigen ist. Wer über die vertragsrechtlich, gelinde gesagt, problematische Entlohnung von Benjamins Erben nicht bereits Bescheid wusste, wird sich des Gefühls der Empörung über die Verantwortlichen und der Sympathie für jenen, der da für die Hinterbliebenen streitet, nicht entziehen können. Und wer die Kontroverse um die Benjamin-Ausgabe nicht kannte, wird den Herausgebern weder Mühen noch Redlichkeit absprechen.
Wer an Tiedemanns eigenem explizit philosophischem Zugang zu Adorno und Benjamin interessiert ist, dem mögen die jüngeren Monografien „Mythos und Utopie. Aspekte der Adornoschen Philosophie“ (2009) und „Niemandsland. Studien mit und über Adorno“ (2007) vielleicht dienlicher sein als „Adorno und Benjamin noch einmal“. Zwar tritt aufgrund der stellenweise strengen, gerade auf Unpersönlichkeit angelegten Textgattungen der originär philosophische Zugriff zurück in den Zwischenraum der Zeilen. Doch gerade aufgrund der Verbindung von Person und Text erhält „Adorno und Benjamin noch einmal“ seine Besonderheit. Als beeindruckendes Monument einer fast lebenslangen editorischen Tätigkeit, als stellenweise melancholisches Zeugnis einer vergehenden Epoche, in der die Kritische Theorie tatsächlich Lehrer-Schüler-Verhältnisse in erster Generation etablierte, und als überzeugender Ausweis eines Kritikers, von dem man gern noch mehr gelesen hätte oder lesen würde, ist „Adorno und Benjamin noch einmal“ unbedingt ans Herz zu legen.
|
||