Materialien zu einer Kritik des Kunstregens

Nach vierzig Jahren kommt F.C. Delius’ Dissertation „Der Held und sein Wetter“ erneut auf den Markt und erweist sich trotz ihres Zeit-Jargons als wichtiger Blick hinter die literarischen Kulissen

Von Thomas StachelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Stachel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn eine vierzig Jahre alte germanistische Doktorarbeit bei einem namhaften Verlag in neuer Auflage erscheint, dann gibt es dafür einen guten Grund. Im vorliegenden Fall heißt er: Georg-Büchner-Preis. Deutschlands renommierteste Auszeichnung im Reich der Literatur ging im Jahr 2011 an Friedrich Christian Delius, den (wie es in der Begründung heißt) „kritischen, findigen und erfinderischen Beobachter, der in seinen Romanen und Erzählungen die historischen Tiefendimensionen unserer Gegenwart auslotet“ und „mit politisch hellwachen, ideologieresistenten Texten die Geschichte der deutschen Bewusstseinslagen im 20. Jahrhundert erforscht“. Von den Stichworten Politik und Ideologie wird noch die Rede sein.

Der erhöhte Bekanntheitsgrad eines Autors, der sich im Gefolge des Büchnerpreises meist einstellt, ist Grund genug für eine Neuauflage. Doch Delius’ früher Text hat sich in Germanistikkreisen schon immer recht großer Beliebtheit erfreut, war aber längst nicht in allen Bibliotheken zu finden (Google Scholar nennt 57 Verweise auf die Arbeit, eine stattliche Zahl, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Dissertation von etwa drei Menschen wahrgenommen wird, von denen zwei die eigenen Eltern sind). Ein Neudruck war also schon lange ‚Desiderat‘, wie es in der Forschung so schön heißt, und die frischen Exemplare aus dem Hause Wallstein werden dieses Verlangen nun stillen.

Wer 1971 in einem geisteswissenschaftlichen Fach in Deutschland promovierte, der hatte das Jahr 1968 mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen Schreibtisch, Audimax und Demo verbracht. Und wer dann auch noch Germanistik studierte, eine Wissenschaft, die wie keine zweite in den Sog der Ideologiekritik geriet, der war fast prädestiniert dazu, eine bestimmte Sprache zu sprechen, bestimmten Ideen anzuhängen, und einer bestimmten wissenschaftlichen Methode vor anderen den Vorzug zu geben. Delius bildet darin keine Ausnahme, genausowenig wie seine politisch progressiven Kollegen, deren bis heute gelesene Dissertationen ebenfalls aus den frühen 1970er-Jahren stammen: Hans Christoph Buch („Ut Pictura Poesis“), Heinz Schlaffer („Der Bürger als Held“), sowie Reinhold Grimm und Jost Hermand, deren Tagung zur sogenannten ‚Klassik-Legende‘ für viel Zündstoff sorgte.

„Der Held und sein Wetter“, die Dissertation des damals 28-jährigen Delius, atmet in tiefen Zügen den Geist ihrer Zeit. Schon der erste Satz ist eine Kampfansage an den vermeintlich wertfreien und unpolitischen Wissenschaftsbetrieb: „Diese Arbeit hat mit der Metereologie genau so wenig zu tun wie mit der germanistischen Motivforschung.“ Was sie sich stattdessen auf die Fahnen geschrieben hat, ist die Entlarvung eines poetischen Kunstgriffs, der gerade deshalb so wirksam ist, weil er seine Künstlichkeit mithilfe eines allgegenwärtigen Naturphänomens zu verschleiern sucht. So erklärt sich auch der Untertitel der Arbeit: „Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus“.

Dementsprechend dicht gesät sind die Begriffe, die Untersuchungen dieser Jahre zu begleiten pflegen. Es ist viel von bürgerlicher Germanistik die Rede und von verfestigtem bürgerlichen Denken, von gesellschaftlichen Widersprüchen und der Legitimation der bestehenden Verhältnisse, von Kapital, Großbourgeoisie und Kleinbürgern, von politischem Eskapismus und der Schein-Wirklichkeit und Ersatzbefriedigung der Literatur. Materalistische Literaturkritik und Literatursoziologie stellen das theoretische Instrumentarium bereit; Karl Marx, Georg Lukács und Karl Mannheim liefern zentrale Denkanstöße.

Nichts wäre einfacher, als die Arbeit aufgrund dieser Schlagworte nun als veraltet abzutun und sie in der akademischen Mottenkiste zu verstauen. Das Rad der Geschichte hat sich weitergedreht, die Talare sind weitestgehend entmufft oder abgeschafft, die Sprache ist eine andere geworden, und politische Kategorien und Ziele haben sich verändert. Vokabeln wie Klasse, Produktionsmittel, und dialektischer Materialismus sind trotz ‚Occupy Wall Street‘ und einer schleichenden Marx-Renaissance in weiten Teilen der Bevölkerung nach wie vor mega-out.

Doch Delius‘ Studie hat weit mehr zu bieten als ein verhalltes Echo aus studentenbewegten Tagen (wie ja überhaupt die Tatsache der Datierbarkeit eines Textes über seinen Wert nicht viel besagt). Dies ist schon daran zu erkennen, dass es einen zweiten, stärker gemischten Chor gibt, durch den auch ganz andere als marxistische Stimmen in die Untersuchung gelangen: Sigmund Freud bildet bei Delius den großen Gegenpol zu Lukács und Co., und darüber hinaus werden Anregungen aus den verschiedensten Ecken herangezogen: von Barthes, Bachelard und Blumenberg, über Fromm, Mukařovsky und Habermas, Ernst Robert Curtius und Wolf Lepenies, Käte Hamburger und Dieter Henrich, bis hin zu Schmitt und Gehlen – für die Literaturkritik-Landschaft von 1971 eine recht abwechslungsgreiche Liste. Vielleicht ist es das, was die Büchnerpreis-Jury mit der Kombination von „ideologieresistent“ und „politisch hellwach“ meint: eine Haltung, die zwar politisch links und engagiert ist, ihren Stallgeruch aber nicht mit letzter Deutlichkeit verströmt.

Was heute an Delius gepriesen wird, das war ihm selbst in den 1970er-Jahren noch nicht ganz geheuer. Auf den Seiten seiner Doktorarbeit nämlich scheint ihm angesichts des politischen Klimas der Zeit das Fehlen einer klaren Marschrichtung seiner Studie ein erheblicher Mangel zu sein. Die Vielfalt seiner Blickwinkel erscheint ihm als Problem, mit dem er sich in einer Vorbemerkung umständlich auseinandersetzt. Das Resultat sind zornige Satzkaskaden, vorgetragen in strengster Prosa, in denen Delius mit sich selbst und der Germanistik seiner Zeit hart ins Gericht geht. Sie allein lohnen bereits die Lektüre des Buches. Sie zeigen den Autoren als Akteur in einer Umbruchszeit, hin- und hergerissen zwischen den vielen, oft gegenläufigen Tendenzen seines Faches. Die Ironie der Geschichte: Ausgerechnet der Punkt, für den sich Delius so wortreich kasteit, ist das Merkmal, das sein Buch auch heute noch wertvoll und lesenswert macht.

Denn trotz ihrer manchmal etwas überhitzten Zeitgenossenschaft schöpft die Untersuchung aus einem beeindruckenden Wissensfundus. Wie nebenbei nennt der Autor die Anzahl der Texte, die er seiner Studie zugrunde legt: „Zunächst untersuchte ich etwa sechzig Romane des 19. Jahrhunderts und ihren Anteil fiktiven Wetters.“ Und über weite Strecken hört sie sich gar nicht an wie eine Doktorarbeit, denn sie ist meist sehr klar und pointiert geschrieben (der Wissenschaftler Delius scheint bereits hier auf dem Weg zur Schriftstellerei).

Die Zahl der Romane, die tatsächlich besprochen werden, ist überschaubar: Zur Sprache kommen Werke Gutzkows, Immermanns, Ludwigs, Spielhagens, Raabes und Fontanes, aber auch einiges Unbekannte und Abseitige ist dabei. Das Gros der Texte stammt aus der Zeit von der gescheiterten 1848er-Revolution bis zur Jahrhundertwende. In dieser Phase spielt das Wetter in der Literatur eine besonders zwielichtige Rolle. Delius führt vor, wie die vielfältigen „Dienstleistungen“ von Regen, Sonne, Wind und Nebel wieder und wieder eingesetzt werden, um Macht und Ohnmacht des literarischen Personals zu verschleiern oder zu verklären. Unrecht und Ausbeutung, die geschichtliche Phänomene sind, wird dadurch der Anstrich von natürlicher Schicksalhaftigkeit gegeben.

Dabei kommt es zwar immer wieder zu Passagen, in denen es von marxistischem Vokabular nur so knistert. Doch wer sich davon nicht abschrecken lässt und statt bei den Worten bei der Sache bleibt, dem wird das Bewusstsein für die Künstlichkeit und die politische Aufladung des Kunstmittels ‚Wetter‘ deutlich geschärft. Und immer wieder gibt es schöne Zusammenfassungen wie diese: „Die Techniken der Wetterbehandlung kommen dem Bedürfnis nach Orientierung am Höheren und Schicksalhaften entgegen. Es wird eine Verklammerung hergestellt zwischen Mensch und Natur, die, durch nichts in Frage gestellt, schicksalhafte Qualität bekommt. Mit den Verweisen auf die Natur, aufs Wetter und auf das Höhere und mit dem Gefüge von Parallelismus, Natursymbolen und -metaphern wird ein imaginärer Himmel installiert, der die ordinären Geschehnisse unten spiegelt, bestätigt, transzendiert. Damit entstehen eindeutige Relationen und ein geschlossener Raum, denen das geschlossene, eindeutige Tugendsystem entspricht.“

Diese Zeilen sind aus der politischen Großwetterlage der 1968er heraus geschrieben. Anzumerken ist ihnen dies jedoch in keiner Silbe. Der Delius von damals hätte das vielleicht zerknirscht als Manko eingeräumt; dem „ideologieresistenten“ Büchnerpreisträger von heute dürfte es nicht unrecht sein.

Titelbild

Friedrich Christian Delius: Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus.
Mit einem Vorwort von Wolf Haas.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
221 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835310285

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