Faszinierende psychoanalytische Spurensuche

Sándor Márais’ letzter in Ungarn verfasster Roman aus dem Jahre 1946, „Die Schwester“, erzählt von einem verzweifeltem Künstler

Von Barbara TumfartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Tumfart

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der ungarische Schriftsteller Sándor Márai (1900-1989) musste 1948 Ungarn vor den Kommunisten verlassen, exilierte nach Italien und lebte ab 1952 in den USA, wo er sich nach mehreren privaten Schicksalsschlägen 1989 das Leben nahm. Ähnlich wie im Leben des Autors Márai befinden sich auch seine Romanfiguren meist in einer schwierigen Lebenssituation, müssen traumatische Erlebnisse bewältigen oder werden durch ein jäh eintretendes Ereignis aus ihrem bis dato vermeintlich friedlichen Dasein gerissen und von den Schatten der Vergangenheit eingeholt.

„Die Schwester“ ist der letzte noch in Ungarn erschienene Roman Márais, in dessen Mittelpunkt eine fatale Ménage-à-trois rund um den Pianisten Z. steht. Der Erzähler des ersten Teiles des Buches trifft an den Weihnachtsfeiertagen auf den einst weltberühmten Künstler Z. in einem abgeschiedenen Gasthof in den transsilvanischen Bergen. Die Pensionsgäste sitzen dort schon seit geraumer Zeit aufgrund der schlechten Witterung fest, können lediglich langweilige Tätigkeiten im Haus verrichten und hoffen darauf, dass sich endlich eine weihnachtliche Winteridylle einstellt. Nach Tagen des zermürbenden Wartens geschieht plötzlich ein tragisches Ereignis, das eine gewisse Dynamik in die sonst sehr lethargische Gästeschar bringt: Ein auch in der Pension einquartiertes Liebespaar begeht Selbstmord. Durch diese Unglückstat kommt der Erzähler in Kontakt mit dem sehr verschlossen auftretenden Z., und einige vieldeutige Gespräche über die Musik und den Sinn des Lebens folgen.

Doch dann reist Z. unvermittelt ab. Monate später erfährt der Erzähler von Z.’s Tod in einem Sanatorium und erhält überraschenderweise ein handschriftliches Manuskript aus dessen Nachlass. Was nun folgt, ist eine minutiöse Schilderung von Z.’s Leidensweg und die Gründe für sein einstiges Verschwinden aus der Gesellschaft und das Ende seiner künstlerischen Tätigkeit.

Nach einem Konzert in Italien erkrankte er an einer mysteriösen Nervenkrankheit, die aufgrund vielfältiger Lähmungserscheinungen ein plötzliches Karriereende des Pianisten und einen mehrmonatigen Aufenthalt in einem italienischen Krankenhaus nach sich zog. In einer Mischung aus Erinnerungsbruchstücken, einer Vielzahl an tiefschürfenden Gesprächen mit den ihn behandelten Ärzten kommt Z. zu der Erkenntnis, dass die Krankheit als Resultat seiner zwar platonischen, aber fatalen Beziehung zu einer verheirateten Frau zu interpretieren ist. Die Krankheit steht quasi als Metapher für die Lebenslüge von Z. und seine Verstrickung in unheilvolle und aussichtslose Beziehungen. Die darauffolgende Genesung geht nun zwar zügig voran, scheint aber nicht von Dauer zu sein.

Márais Roman aus dem Jahre 1946 ist keine leichte Kost, die man nebenbei liest – es wäre dazu auch zu schade. Der aufmerksame Leser muss sich vielmehr auf die permanent düstere, bedrohliche Stimmung, die mit Metaphorik beinahe überladenen Beschreibungen und die tiefgründigen Gespräche zwischen den Figuren einlassen, um die Faszination in dieser psychoanalytischen Spurensuche eines am Leben und der Welt Verzweifelten zu spüren. „Die Schwester“ ist nicht Márais bester Roman, aber doch ein absolut lesenswertes Stück Literatur des 20. Jahrhunderts, das einen exzellenten Einblick in die Gedanken- und Ideenwelt des ungarischen Schriftstellers ermöglicht und Márais literarisches Erbe vervollständigt.

Titelbild

Sándor Márai: Die Schwester. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Kunze.
Piper Verlag, München 2011.
279 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783492054638

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