Vorwärts die Rosse traben, lustvoll schaukelt das Boot
David Cronenbergs Film „Eine dunkle Begierde“, der als „die wahre Geschichte einer Begegnung, die alles verändern sollte“, ins Kino kam
Von Bernd Nitzschke
Bram Stoker hat uns die Geschichte von Graf Dracula erzählt. Darin kommt ein Irrenarzt namens Dr. John Seward vor, der sich um das Seelenheil der jungen schönen Lucy bemüht. Er kann sich die Symptome der merkwürdigen Erkrankung dieser Patientin aber nicht so recht erklären. Deshalb bittet er Professor Abraham van Helsing um Rat. Und der weiß Bescheid: Lucy ist so bleich, weil sie von einem Vampir gebissen worden ist. Soweit die Diagnose im Roman.
Im wirklichen Leben geht es bisweilen ähnlich zu. In Zürich 1904 ff. zum Beispiel. Da bemühte sich Dr. Carl Gustav Jung um das Seelenheil einer jungen schönen Patientin. Er behandelte sie nach allen Regeln einer – damals noch sehr neuen – Kunst, genannt Psychoanalyse. Und als er nicht mehr weiter wusste, wandte er sich an Professor Sigmund Freud. Der tröstete ihn: „Kleine Laboratoriumsexplosionen werden bei der Natur des Stoffes, mit dem wir arbeiten, nie zu vermeiden sein.“
Worum es ging, hatte der Professor bereits in einem früheren Brief beschrieben: „Das ‚großartigste’ Naturschauspiel bietet die Fähigkeit dieser Frauen, alle erdenklichen psychischen Vollkommenheiten als Reize aufzubringen, bis sie ihren Zweck erreicht haben.“ Gemeint waren die Hysterikerinnen. Eine davon hieß Sabina Spielrein. Das war die junge schöne russisch-jüdische Studentin die, geschüttelt von „Lach-, Wein- und Schreikrämpfen“, als Neunzehnjährige in die Irrenanstalt Burghölzli eingeliefert wurde, an der Dr. Jung damals tätig war.
Ja, so beginnt der Film „Eine dunkle Begierde“: mit einer rasenden Kutschfahrt. Gezogen von schwarzen Rossen kommt das Gefährt vor dem Portal der Klinik endlich zum Stehen; und dann fängt die Therapie an, die 1908 in eine Amour fou umschlägt, weil Dr. Jung von einem anderen Patienten, dem Dr. Otto Gross, der rauschgiftabhängig für kurze Zeit ebenfalls in Burghölzli einsitzt, entsprechend instruiert worden ist. Gross versteht sich als Psychoanalytiker; und darüber hinaus ist er auch noch Sexualimmoralist. Sein Credo der Befreiung lautet: Vögelt und ihr werdet gesund! Oder etwas vornehmer, nämlich in den Worten Sabina Spielreins ausgedrückt: „Nun kommt der (Jung – B.N.) ganz freudestrahlend und erzählt in tiefster Rührung von Gross, von der grossen Erkenntnis die ihm nun aufgegangen ist (d. h. wegen der Poligamie), er will nun nicht mehr sein Gefühl zu mir unterdrücken; … er will mir nun alles von sich erzählen.“ So steht es in einem Brieffragment aus dem Jahr 1909.
Ob 1904 tatsächlich eine Kutsche mit schwarzen Rossen vor der Klinik anhielt, ist nicht verbürgt. Ich behaupte: Die Eröffnungsszene des Films, der den Zuschauer mit wunderschönen Bildern und rauschhaften Wagnermelodien umgarnt, ist ein Zitat. Der Regisseur hatte die Schlussszene von Roman Polanskis Film „Tanz der Vampire“ vor Augen, in der ein Schlitten von einem wilden Ross gezogen durch den verschneiten Winterwald stiebt. Vorne sitzt Professor Ambronsius und hinten umarmt sich das verliebte Paar Alfred und Sarah. Alle drei sind mit knapper Not aus dem Schloss des Grafen Krolock entkommen. Doch leider, leider, hat dieser transsilvanische Vampir Sarah noch kurz vor der überstürzten Abreise gebissen. Und so konnte sich das Böse über die ganze Welt ausbreiten – bis es David Cronenberg endlich gelang, es wieder einzufangen und in der Anstalt Burghölzli abzuliefern.
Ja, das sind die Wege des Wahnsinns: Sie führen vom Vampiraberglauben über die Besessenheit bis nach Zürich und Wien. Und die Rosse? Sie sind das Sinnbild der Natur, die es mit Hilfe der Vernunft zu bändigen gilt. „Denn was, für ein unbändiges Roß, Zügel und Gebiß ist, das ist für den Willen im Menschen der Intellekt; an diesem Zügel muß er gelenkt werden, mittels Belehrung, Ermahnung, Bildung“, heißt es dazu bei Schopenhauer. Und beim ewigen Skeptiker Freud lesen wir weiter: „Man könnte das Verhältnis des Ichs zum Es mit dem des Reiters zu seinem Pferd vergleichen. Das Pferd gibt die Energie für die Lokomotion her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu bestimmen, die Bewegung des starken Tieres zu leiten. Aber zwischen Ich und Es ereignet sich allzu häufig der nicht ideale Fall, dass der Reiter das Roß dahin führen muß, wohin es selbst gehen will.“ Und in David Cronenbergs Film traben die Rosse der Leidenschaft ebenfalls ungestüm, allerdings in recht ausgetretenen Pfaden.
Da jauchzt und jammert es in Dur- und Molltönen, wenn Michael Fassbender als herausgeputzter Ehrgeizling Dr. Jung auftritt und Keira Knightley, die im Film Sabina Spielrein verkörpert, zunächst als leidende Patientin, dann als lernende Studentin und schließlich auch noch als praktizierende Psychoanalytikerin umgarnt, umarmt und versohlen muss, weil Cronenberg offenbar der Auffassung ist, dass sich „die wahre Geschichte einer Begegnung, die alles verändern sollte“ (so der Untertitel seines Films), ohne solche sadomasochistischen Praktiken nicht verstehen ließe. Ansonsten kann Dr. Jung vom beträchtlichen Vermögen seiner Frau Emma gut leben, während der arme Schlucker in Wien, Professor Freud, dessen weltabgewandte Weisheit Viggo Mortensen im Film mit regloser Miene zur Schau stellt, vom Morgen bis zum Abend schuften muss, um seine vielköpfige Familie zu ernähren.
Es gehört also nicht nur zum beruflichen, sondern auch noch zum liebenden Handwerk des Dr. Jung, die Grenze zwischen Vernunft und Irrsinn wiederholt zu überschreiten. Und wenn er nicht gerade mit Sigmund Freud in dem schönen Segelboot debattiert, das ihm nebst immer neuen Kindern von seiner ergebenen Gattin geschenkt wurde – Sarah Gadon duldet in dieser Rolle blond und engelgleich bis zum Schluss des Films –, dann wälzt sich Dr. Jung mit Sabina im Segelboot, das dazu lustvoll in den Wellen des Zürichsee schaukelt. Wir sitzen (oder liegen) doch alle im selben Boot. Ja, so lässt sich diese menschlich-allzumenschliche Wahrheit ins Bild setzen.
Diese „Mischung aus Heimatfilm, Melodram, Märchen und prachtvoller Biedermeieridylle“, bei der Sabina Spielrein anfangs irre grimassieren muss, dann aber „taufrisch, jung, kindlich verführerisch“ ihre Roben zur Schau stellen darf, das ist großes Kino. Offenbar handelt es sich dabei um ein Remake. Denn die beiden Zitate habe ich wörtlich einem Film-Lexikon entnommen, in dem damit ein anderer Historien- und Kostümfilm gemeint ist: „Sissi“! Ein schönes Paar wie Romy Schneider und Karlheinz Böhm geben Keira Knightley und Michael Fassbender allemal ab.
Und damit wieder zurück zum Film „Eine dunkle Begierde“! Das Drehbuch hat Christopher Hampton geschrieben, dessen Theaterstück über Jung, Freud und Spielrein „The Talking Cure“ hieß – und auf gut Deutsch „Die Methode“ heißt. Das Bühnenstück war die Vorlage für Cronenbergs Film. Diesem Schauspiel wiederum lag das 1993 erschienene Buch „A Most Dangerous Method“ von John Kerr zugrunde. Ein Blick in dieses Buch hätte genügt, um die Behauptung, der Film erzähle „eine wahre Geschichte“, die fast alle Kritiker des Films kritiklos übernommen haben, Lügen zu strafen.
„Ich finde es … plausibel, daß die beiden es nicht zum Geschlechtsverkehr kommen ließen“, heißt es bei Kerr, der offenbar den Brief kannte, den Jung 1919 – also lange nach dem Ende der Liebesbeziehung – an Sabina Spielrein schrieb: „Die Liebe von S(abina). zu J(ung). … mußte ‚sublimiert’ sein, weil sie sonst in die Verblendung und in die Verrücktheit geführt hätte.“
Die Gefühle der Liebenden reichten also vom Himmel durch die Welt zur Hölle – doch das, wonach alle Schlüssellochgucker gieren, fand nicht statt. Anders im Film. Da soll ein Blutfleck auf dem Bettlaken beweisen, was nach alter sizilianischer Sitte zu beweisen ist: Die Braut war noch Jungfrau! So macht der Regisseur die Zuschauer zu Zeugen seiner Männerphantasien. Und in den Szenen, in denen er Sabinas Hintern verbläuen lässt, da verdeutlicht er recht plump sein Verständnis des psychoanalytischen Konzepts der „Übertragung“. Tatsächlich ist in Jungs Krankenbericht von „Züchtigungen auf den Hintern“ die Rede, „die der Vater der Pat.(ientin) zwischen dem 4 & 7ten (Lebensjahr) appliciert“ hat. Was der Vater damals machte, das wiederholt jetzt der Therapeut. Und durch dieses Doktorspiel verwandeln sich die Schmerzen des Kindes von gestern in die Lust der sinnlichen Frau von heute.
So einfach, wie es sich der Regisseur gemacht hat, lagen die Dinge in diesem „Fall“ aber wirklich nicht. In den Krankenakten findet sich nämlich auch noch dieser Hinweis auf Sabinas Mutter: „Die Mutter wollte sie … einmal schlagen in Gegenwart ihrer Brüder und der Freunde ihrer Brüder. Als sie im 13ten Jahre einmal von der Mutter gezüchtigt wurde, lief sie fort, versteckte sich überall, begoss sich mit eiskaltem Wasser (Winter), gieng in den Keller, um sich tötlich zu erkälten; womit sie die Eltern quälen und sich töten wollte. Im 15ten Jahre wollte sie sich in Karlsbad durch Hunger töten, weil sie die Mutter erzürnt hatte.“ Die Beziehung zwischen der Tochter und der Mutter, die im Film verkitscht dargestellt ist, war in Wirklichkeit von zentraler Bedeutung.
Bereits ein Jahr nach Beginn der Therapie hatte Jung den Zusammenhang erkannt, der zwischen der Verliebtheit der Patientin und dem Groll bestand, den sie auf ihre Mutter hatte. Und so notierte er 1905 in einem für Freud bestimmten Bericht: „Während der Behandlung hatte die Pat.(ientin) die Malchance, sich in mich zu verlieben. Sie schwärmt nun der Mutter immer in ostentativer Weise von ihrer Liebe vor, wobei eine geheime chicanöse Freude am Schrecken der Mutter eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt.“ Als die Mutter einige Jahre später von ihrer Tochter Genaueres über deren Beziehung zu Jung erfährt, gibt sie ihr diesen Rat: „Das Wichtigste ist, zu sehen, dass er erobert werden könnte, es sich aber nicht lohnt. Du kannst es nicht besser haben, als es jetzt ist …“
Kurze Zeit später droht die Liebesbeziehung durch Getratsche in der Öffentlichkeit bekannt zu werden. Die Mutter hat einen anonymen Brief erhalten, wahrscheinlich von Jungs Ehefrau geschrieben. Nun spielt sie Jung gegenüber die ahnungslose, um das Wohl ihrer Tochter besorgte Mutter. Er möge sich ihrer Tochter doch nur ärztlich und schicklich nähern, schreibt sie ihm in einem Brief. Darauf antwortet Jung: „Ich habe Ihrer Tochter immer gesagt, dass das Sexuelle ausgeschlossen sei, und dass ich blos mit meiner Handlungsweise meinem Gefühle der Freundschaft Ausdruck verleihen wollte.“ Es ist dieser Verrat aller anderen Gefühle, die Jung Sabina Spielrein gegenüber offenbart hatte, der Sabina zutiefst verletzt. Und auch hinsichtlich dieser Kränkung spielt die Beziehung zwischen der Tochter und der Mutter die zentrale Rolle.
Im Juni 1909 schreibt Sabina an Freud, der inzwischen sowohl von ihr wie von Jung als väterlicher Vermittler angerufen worden ist, einen Brief, in dem es heißt: „Wie entsetzlich muss es denn für mich sein, wenn die Mutter nun dazwischen kommt, mich als Kindchen unter ihren Schutz nimmt, und mein Freund flieht, wie ein elender Feigling und besudelt das, was so hoch, so hell und rein ueber allem stand. Wäre er doch zu mir gekommen, hätte er mir doch gesagt, dass die Freundschaft für ihn ueber irgend ein dummes Geklatsch in der Welt steht …“
Es dauerte lang, bis Jung begriffen hatte, was es für Sabina bedeutete, als er durch den Verrat seiner Gefühle sich, seine Haut, seine Ehe und sein Segelboot zu retten versuchte. Und es dauerte noch länger, bis sich Jung und Sabina Spielrein versöhnt voneinander trennen konnten. Sie ging, nach Stationen in Wien, Lausanne und Genf, zurück nach Russland, wo sie zunächst in Moskau und später in ihrer alten Heimatstadt Rostow am Don als Kinderpsychoanalytikerin arbeitete. Im August 1942 wurde sie mit ihren beiden Töchtern, die sie aus der Ehe mit Pawel Scheftel hatte, und Hunderten anderen Juden in der Smijowskaja Balka (Schlangenschlucht) von Deutschen erschossen. Im Abspann des Films wird selbst dieses historische Ereignis falsch, nämlich nach der veralteten Angabe des schwedischen Journalisten Ljunggren benannt, der berichtet hatte, Sabina Spielrein und ihre beiden Töchter seien 1941 „von den Nazis in einer Synagoge“ erschossen worden.
Auch das ist ein Thema, das der Film aufgreift – und doch nur sehr plakativ abhandelt: die arisch-jüdische oder christlich-jüdische Vereinigung, die Sabina Spielrein in etwas anderer Weise vorschwebte als Sigmund Freud. Ja, auch für Freud war Jung lange Zeit ein Hoffnungsträger, dessen Eintreten für die neue Lehre „die Psychoanalyse der Gefahr entzogen hat, eine jüdisch nationale Angelegenheit zu werden“, wie er einmal an Karl Abraham schrieb. An Jung gewandt bemühte Freud sogar ein biblisches Bild: „Sie werden als Joshua, wenn ich der Moses bin, das gelobte Land der Psychiatrie, das ich nur aus der Ferne schauen darf, in Besitz nehmen“.
Ja, auch Freud war verliebt in Jung, wenngleich auf andere Weise als Sabina Spielrein. Doch anders als Sabina Spielrein blieb er, nachdem er sich gekränkt von Jung zurückgezogen hatte, unversöhnt.
Das ist der Rezensent im Hinblick auf Cronenbergs Versuch, die Psychoanalyse mit bunten Bildern zu illustrieren und deren frühe Protagonisten als wandelnde Plakatsäulen auftreten zu lassen, auch: unversöhnt. Was hätte das für ein Film werden können, hätte ihn ein Ingmar Bergmann oder meinetwegen auch ein Roman Polanski gedreht! Dann hätten die Schauspieler nicht nur eine Botschaft vor sich herzutragen – Freud die Vernunft, Spielrein die Leidenschaft, Gross die Revolution, Jung das Spießertum; dann hätten sie mit ihren Konflikten wie Menschen in einer „wahren Geschichte“ leben dürfen, auch wenn es ein Film gewesen wäre. Was soll’s! Trösten wir uns mit Freud, der, als er hörte, die Botschaft der Psychoanalyse solle nun auch noch verfilmt werden, meinte, das könne man „sowenig vermeiden“ wie den „Bubikopf“, der damals gerade modern war, „aber ich lasse mir selbst keinen schneiden“.
Eine dunkle Begierde. Großbritannien / Frankreich / Deutschland / Kanada / Schweiz 2011. Originaltitel: A Dangerous Method Regie: David Cronenberg. Darsteller: Viggo Mortensen, Keira Knightley, Michael Fassbender. Länge: 99 Min.
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