Von Antifaschismus bis Zonophobie

Monika Marons Buch über die Wiedervereinigung Deutschlands: „Zwei Brüder. Gedanken zur Einheit 1989-2009.“

Von Marie Isabel SchlinzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie Isabel Schlinzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Monika Maron begleitet die ersten zwei Jahrzehnte der Nachwendezeit mit historisch geweitetem Blick. Immer wieder ruft sie in den Essays und Reden, welche vorliegender Band versammelt, Verwerfungen ihrer Biografie auf, um weltgeschichtliche wie innerdeutsche Ereignisse zu beschreiben. Einfachen Schematisierungen verfällt sie dabei nicht. Gleich im einführenden Beitrag werden aus der Perspektive des eigenen Lebens Kontinuität und Wechsel der Ideologien des 20. Jahrhunderts beleuchtet: Bolschewismus, Nationalsozialismus, Kapitalismus, vor allem aber die Idee des Kommunismus, dessen Realitäten Monika Maron von klein auf prägen. In der Metaphorik des privaten Lebens schildert sie auch das Verhältnis von Ost- und Westdeutschland: als Zwillinge, die sich im jeweils anderen nicht wiedererkennen mögen.

Die titelgebende Parabel „Zwei Brüder“ reflektiert die Wiedervereinigung als Geschichte einer Familie. Zwei Fotos von Jonas Maron begleiten diesen Text. Sie zeigen ein „Denkmal für die Deutsch-Sowjetische Waffenbrüderschaft“: zwei uniformierte Männer aus Stein, beide postiert hinter den gewaltigen Staatswappen ihres Heimatlandes; beiden ist der untere Teil des einen Arms abgeschlagen worden, welchen sie vom Körper wegstrecken. Im Dialog mit dem Text dokumentieren die Bilder das Ende dieser speziellen Wahlverwandtschaft. Dabei werden Bruch- und Leerstellen, die der historische Prozess hinterlassen hat, sichtbar: Brüder, die einander einst die Hände reichten, weisen nun mit den ihnen verbliebenen Stumpen auf den je anderen.

Während Monika Marons Texte die Jahre chronologisch forsch durchschreiten, umkreisen Jonas Marons Fotografien immer wieder still und poetisch den Moment der Wende, das unmittelbare Davor und Danach, das ungläubige Staunen, das beobachtende Zögern, die Aufbruchsstimmung der DDR-Bürger. Wie ein kaleidoskopisches Erinnerungsbild mahnen die Aufnahmen auf ihre Weise beständig daran, was Monika Maron Ende 1989 hoffnungsvoll festhält: „Ich wünsche mir, dass das Volk in der DDR, das sich während der letzten Monate über seine eigene Macht so nachdrücklich belehrt hat, die Schmerzen und die Schande des gebeugten Gangs nicht vergisst und nicht das erlösende Gefühl, den Rücken endlich zu strecken und den Blick zu heben.“

Unablässig aufmerksam und engagiert widmet sich Monika Maron Themen, die die Zeitenwende aktuell macht. Dazu gehören der Konflikt zwischen Arbeitern und Intellektuellen in der Noch-DDR, die Diskussion um den § 218, Auseinandersetzungen zwischen Ost und West überhaupt. Gerade mit Blick auf Letztere sind ihre Direktheit, ihr mal polemisch, mal bissig, mal ironisch vorgetragener Standpunkt wohltuend. Sie entlarvt Stereotypen des Westbürgers über den Ostbürger – und umgekehrt – als das, was sie sind: Ausdruck eigener Bequemlich- und Unzulänglichkeiten, vergangenheitsverlorenen Vergessens, erlernter Unmündigkeit oder Unsicherheit. Die Autorin geht ebenso ins Gericht mit Ostalgikern, die sich selbstgefällig zu „Opfern des Westens“ stilisieren, wie mit dem „westdeutschen Vergnügungsmarkt“, der Ostdeutschen „mangelndes Geschichtsbewusstsein“ vorwirft und gleichzeitig „DDR-Größen“ ein Forum bietet.

Die Rolle von Presse und Fernsehen bei der Erzeugung wechselseitiger Vorurteile kommt verschiedentlich zur Sprache. 1998 diagnostiziert Monika Maron beispielsweise, „[i]n der“ – durch die Medien beförderten – „Gleichsetzung aller Ostdeutschen mit den Verlierern der Einheit und aller Westdeutschen mit den Siegern liegt die mutwillige oder leichtfertige, die sentimentale oder von Gruppeninteressen geleitete Missinterpretation des ost-west-deutschen Konflikts.“ Journalisten hätten lange Zeit innerostdeutsche Divergenzen ignoriert, bei denen die Nostalgiker eine zunehmend schwindende Minderheit ausmachten; positive Ähnlichkeiten der ‚zwei Brüder‘ seien lange Wirklichkeit, nicht aber in der Berichterstattung angekommen. Anpassungs- und Kritikfähigkeit oder Erfolg waren und sind keine westdeutschen Phänomene, genau so wie Jammerei, Duckmäusertum und Gleichmacherei keine ostdeutschen; wobei es weder den Ostdeutschen noch den Westdeutschen je gegeben hat, wie die Autorin betont.

Man kann ihn gar nicht genug loben, ihren gleichmäßig kritischen Ton, der einfache Parteinahmen vermeidet, offen, auch einmal scharf klingt, sich jedoch dabei stets die Bedingungen der Freiheit dazu dankbar im Bewusstsein hält. Auf zuspitzende Generalisierungen, an denen sich mancher stoßen mag, folgen leiseres Nachdenken und differenzierte Argumente. So etwa in dem im Jahre 1995 in Japan gehaltenen Vortrag, in welchem es zum Umgang des wiedervereinigten Deutschland mit seiner Vergangenheit unter anderem heißt: „Vielleicht ist das Vergessen die Ohnmacht der Seele; vielleicht müssen wir eine gewisse Zeit abwarten, ehe wir uns gefahrlos erinnern können.“

Aus größerem zeitlichen Abstand betrachtet stellt sich heute die Frage, ob es vielerorts und aus vielen Gründen nicht beim Vergessen geblieben ist. Gedient wäre damit keinem, schon gar nicht einem wie auch immer gearteten ost-, west-, oder gesamtdeutschen Selbstbewusstsein. Es scheint, als erwarte auch auf diesem weiten Feld die nachwachsenden Generationen eine Menge Arbeit.

Der geneigte Leser mag schließlich nicht allem zustimmen, was er hier liest, wobei gerade Monika Maron dies als Anregung empfinden dürfte: „Opposition“ ist ihr Antriebsmotor und Schreibprinzip. An einigen Stellen muss man rückblickend das Zeitdokument als eben solches nehmen. Als äußerst aktuell erweist sich dagegen die 2003 formulierte Kritik am „Diktat der globalen Wirtschaft“ sowie der Profillosigkeit zur Wahl stehender Politiker: Beide, so die Autorin, bedrohen nicht nur die jüngst wieder gewonnene Freiheit, sondern die Werte menschlich-demokratischer Gemeinschaft überhaupt. Vielsagend ist der den Band beschließende Einwurf aus 2009, die in der DDR entstandene Literatur solle von Kritiker- wie Germanistenseite endlich „an ihrer literarischen Qualität“ gemessen werden, „statt sie nach ihrer geographischen Herkunft oder ihrem politischen Standort zu klassifizieren“. Diese Forderung würde so oder so ähnlich wohl auch Wolfgang Emmerich, Autor der seit Jahren als Standardwerk geltenden „Kleinen Literaturgeschichte der DDR“, unterschreiben.

Welchem Thema sie sich im Laufe der Jahre auch zuwendet, Monika Maron geht es stets darum, Diskussionen anzufangen oder weiterzutreiben, Dialoge herauszufordern, das Damals wie das Hier und Jetzt kritisch zu befragen, getreu der Erkenntnis, dass „ein Mensch, der sich nicht streckt, schrumpft“. Ihren wissenden, zum Nachdenken anregenden Worten sollte man angesichts des häufig wenig gehaltvollen politischen Theaters dieser Tage um so sorgfältiger zuhören. Eine Entdeckung für sich sind die Bilder von Jonas Maron, die dem Band eine zweite, leisere, aber kaum weniger eindringliche Stimme geben.

Titelbild

Monika Maron: Zwei Brüder. Gedanken zur Einheit 1989-2009.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
208 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783100488343

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