Vehor, ergo sum? Oder: So ein Visionär hat’s schwer

Carsten Ottes „Goodbye Auto“ erzählt von einem Leben ohne Führerschein

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine KFZ-Steuer, keine Strafzettel, kein Feierabendstau oder endloses Parkplatzsuchen, weder Ärger über steigende Benzinpreise noch wegen teurer Service-Untersuchungen in der Vertragswerkstatt: Ein Leben ohne motorbetriebenes Blechvehikel klingt verlockend. So verlockend, dass Carsten Otte ihm gleich ein ganzes Buch widmen muss: Eine „Auto-Biographie“, wie es der seit jeher fahrlizenzlose Erzähler allzu gewitzt bemerkt, eine – mit Verlaub – Suche „nach den Bremsspuren in meinem Leben, die dafür gesorgt haben, daß ich immer noch nicht so genau weiß, wie man Gas gibt“.

Was folgt, ist ein (die Wortwahl scheint angebracht) Spaziergang, ein Wanderausflug in unzählige Lebensepisoden einer fast 40-jährigen Fußgängerexistenz. Schnell wird klar: An allem muss die doofe Tante Schuld sein, die Carsten einst ein „Töfftöff“ schenkte, vielleicht aber auch das Autoquartettspiel oder gar die Hänselei auf dem Grundschuldhof ob der orangefarbenen „Scheißkarre“ des Vaters. Erinnerungswürdig scheint in „Goodbye Auto“ alles, was das Themenfeld „(Auto)Mobilität“ so hergibt. Etwa die eigene Trunkenheit am Fahrradlenker und die obligatorische Polizeikontrolle, eine Massenkarambolage in den Niederlanden, ein Geburtsvorbereitungskurs im Dunstkreis eines Autohauses, ein Besuch in der Autostadt Wolfsburg mit Fahrsimulation oder auch die attraktive Alpenbekanntschaft Elena, in deren roten BMW Cabrio sich der Ich-Erzähler erstmals am Steuer beweisen muss.

Doch bei den schwankhaften Episoden, denen ja – zugegeben – manchmal ein gewisser Unterhaltungswert innewohnt, bleibt es in „Goodbye Auto“ nicht. Ich-Erzähler Carsten versteht sich als Visionär. „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis“ – so seine Devise. Und er hat (seiner Zeit wohl voraus) einfach mal damit angefangen. Schließlich basiert seine Führerscheinlosigkeit auf wohlüberlegten Argumenten. Und er geht davon aus, dass die Zahl jener, die künftig auf den fahrbaren Untersatz verzichten werden, stetig steigen wird: Offenbar in der Hoffnung, dass „sich bürgerliche Identität [dann] nicht mehr über die Wahl der richtigen Automarke, sondern eher darüber definiert, welche Klimabilanz man in seiner mobilen Vergangenheit und Gegenwart vorzuweisen hat.“

Es scheint dieser These geschuldet, dass Ottes Geschichten allzu deutlich mit Fakten, Zahlen, Statistiken versehen sind, die längst das Maß erzählerischer Genauigkeit überschreiten und mehr dem mahnenden Zeigefinger eines Moralisten ähneln, denn der sachlichen Information dienen: KFZ-Zulassungen, Verkehrsunfälle mit Personenschaden, Autobahnnetz und steigende Kohlendioxid-Emissionen, Erderwärmung, abschmelzende Pole, Artensterben, extreme Wetterereignisse. Ohne Zweifel stimmt das nachdenklich, aber ist das „auto-biographisch“?

Genau hier gerät „Goodbye Auto“ ins Schlingern. Während die genannten Aspekte und einige Feuilletonisten für den Sachbuchcharakter des Buches sprechen, hat Ich-Erzähler Carsten augenscheinlich Größeres vor. Und damit ist nicht seine naiv-aberwitzige Idee gemeint, ein – bisweilen noch unbekanntes – neues literarisches Genre entdeckt zu haben: „Auto-Biographien werden schon bald in Mode kommen; der Buchmarkt wird eines Tages […] mit wahlweise euphorischen, melancholischen und haßerfüllten Erinnerungen an die alte Auto-Zeit überschwemmt.“

Anspruch auf literarische Relevanz erhebt „Goodbye Auto“ dann, wenn sein Erzähler – obschon (genauso wie Otte) selbst in der BRD der 1970er-Jahre geboren und somit rein formal Kandidat der Generation Golf – jenem Phänomen und mit ihm seinem Gründervater Florian Illies die Stirn bietet: „Generation Golf? Auto war gestern. Was früher exotisch war, ist heute sexy.“

Indem er die „Legende der Generation Golf“ entmythisieren, sie sowohl argumentativ als auch gegenbeispielhaft anhand seiner Lebensepisoden entkräften will, nimmt er (automatisch) den Vergleich mit Illies Bestseller in Kauf und bezieht – ob freiwillig oder nicht – Stellung im literarischen Feld des 21. Jahrhunderts. In direkter Opposition aber zu „Generation Golf“ (2000) und seinem Erfolg, zu seiner Rezeptionsgeschichte (mit all den Diskussionen um Konsumorientierung und generationelle Identität et cetera) sowie den literarischen Reaktionen, kann „Goodbye Auto“ als belletristisches Werk kaum bestehen.

Fast scheint es, als hätte der Erzähler das selbst merken können, als er über sein Vorhaben sinniert: „Goodbye Auto ist wie unser weitverzweigtes Straßennetz angelegt. Mal bewege ich mich erzählerisch auf einer Allee, dann wieder in einem Tunnel, mal scheine ich mit dem Text einen langsamen Laster über eine mir gänzlich unbekannte Landstraße zu lenken, mal befinde ich mich mit meinen Erinnerungen auf einer Autobahn […]. Manche Wege […] sind von keinem Navigationssystem erfaßt. Ich fahre vorwärts, rückwärts, in Raum und Zeit. Ich zweige ab und verfahre mich ständig.“ Nach Überholmanöver klingt das (um noch ein letztes Mal im so geliebten Bild zu bleiben) nicht – unter literarischen Aspekten vielmehr nach Tempo 30 auf dem Pannenstreifen.

Das ist schade, denn es hatte alles so vielversprechend angefangen, damals im Jahr 2004, als der Autor Carsten Otte mit seinem provokanten Roman „Schweineöde“ debütierte, und sein Protagonist, der westdeutsche Unsympath Kuballa, in der ostdeutschen Provinz den gesamtdeutschen Umgang mit der deutsch-deutschen Geschichte stasiesk unter die Lupe nahm. Auch das Porträt des baden-baden’schen Kurlebens in seinem zweiten Roman „Sanfte Illusionen“ (2007) hatte durchaus überzeugendere Argumente. Aber da ging es auch nicht darum, mit einer Vision die Welt zu verbessern.

Titelbild

Carsten Otte: Goodbye Auto. Ein Leben ohne Führerschein.
Goldmann Verlag, München 2009.
350 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783442155569

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