Diesseits und jenseits der Kultur

Dirk Baecker hinterfragt in "Wozu Kultur?" einen inflationär verwendeten Begriff

Von Sabine KaldemorgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Kaldemorgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Soviel Kulturverflachung war noch nie- zumindest, wenn man den Kulturpessimisten glaubt. Während sich Kulturoptimisten meist in Schweigen hüllen, propagieren die Schwarzseher, dass Ästheten der Spaßgesellschaft das Feld überlassen haben und umtriebige Manager mit medienübergreifenden Events zum Verfall beitragen. Als Folge des Missstands zerfransen die Kriterien für das, was herkömmlich als Kultur bezeichnet wird.

Doch wie lässt sich Kultur näher bestimmen und wozu dient sie? Dirk Baecker geht diesen Fragen in neun Essays nach. Der Soziologe beschreibt die Rolle der Kultur in Zeiten der Globalisierung, den Wandel des Begriffs seit der Antike, das Programm der Kultur und er versucht, eine Begriffsbestimmung vorzunehmen. Kein leichtes Vorhaben, da sein Untersuchungsgegenstand einem Chamäleon gleicht und sich je nach Standort des Beobachters verändert. Der Professor für Unternehmenskultur an der Universität Witten-Herdecke argumentiert aus systemtheoretischer Warte und versucht den Begriff einzugrenzen. Er konstatiert, der Kulturbegriff ähnle einem "Köder, den die moderne Gesellschaft auslegt, um auch und gerade ihre Kritiker einzunehmen". Kultur als Zweiparteien-Spektakel, die sich den Spielball von gut oder böse, zivilisiert oder barbarisch, avantgardistisch oder altbacken zuwerfen? Der moderne Kulturbegriff beinhaltet für Dirk Baecker die "Praxis des Vergleichs". Dissens und Konsens, Akzeptanz und Ablehnung führen zu paradoxen Situation und vorprogrammierten Widersprüchen, "die es ermöglichen, das, was der eine feiert, vom anderen kritisieren zu lassen". Ohne den Kontrast des Anderen entsteht für den Autor erst gar keine Kultur. Als drittes Element fügt er den Terminus des "tertium datur" hinzu, die Beobachtung von einer übergeordneten Warte aus. Die Perspektive von außen ermöglicht Abstand. Zuviel Nähe birgt die Gefahr von Blindheit: "Es gilt für die Kultur, was für alle Beobachtungsoperationen gilt: Sie hat einen blinden Fleck: Sie sieht nicht, daß sie nicht sieht, was sie nicht sieht". Ähnlich einem Brennglas verschwimmt das Objekt zur Unkenntlichkeit und mit ihm die Urteilskraft des Betrachters. Wer kann dann noch die Spreu vom Weizen trennen? Wer entscheidet, nachdem der Vorhang einer Aufführung gefallen ist, ob sie als "off scene" Ereignis an der Kultur-Peripherie angesiedelt wird oder dazu taugt, zur Tradition zu zählen?

War die Floskel "Wie interessant!" noch Antriebsfeder von kritischen Geistern und Aufklärern im 17. und 18. Jahrhundert, so ist der Kulturinteressierte von heute zur Selektion in einem unüberschaubaren Angebot gezwungen. Die inflationäre Verwendung des Begriffs trägt zur zusätzlichen Verwirrung bei: Unternehmenskultur, Subkultur, Streitkultur und zahlreiche weitere Instanzen und Phänomene mit dem Suffix Kultur zeugen vom Ende der Reinkultur. Die Thesen des Soziologen können ein Anstoß für die Kulturwissenschaft sein, überschaubare Schneisen ins Dickicht zu schlagen.

Dirk Baecker sieht als Ziel der Kulturwissenschaft nicht die Sammlung von Werten zur identitätsstiftenden Archivierung, sondern die Bestandsaufnahme der Gegenwart als Leistung für die Zukunft. So weit, so gut. Bei seiner Forderung, die Vielfalt als Chance für die Zukunft anzusehen, sind im digitalen Zeitalter Zweifel angebracht. Die anarchistische Situation im Webspace vernebelt alle herkömmlichen Unterscheidungsmöglichkeiten über den Zustand der Kultur.

Titelbild

Dirk Baecker: Wozu Kultur?
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2000.
192 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3931659208

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