Amore in Ascona
Ulrike Voswinckel hat ein Buch über die um 1900 in Schwabing und auf dem Monte Verità erprobten „Entwürfe gegen das etablierte Leben“ geschrieben
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFällt in einem Gespräch das Wort „Ascona“, dürfte manch ein Zeitgenosse mittleren Alters an einen beliebten Mittelklassewagen denken, auf den er möglicherweise in seiner Jugend hingespart hat. Kulturbeflissenen Geistern mag auch ein Jazz-Festival in den Sinn kommen, das sie schon immer einmal besuchen wollten. Vor einem runden Jahrhundert war das damals noch beschauliche Dörfchen am Fuße des Monte Verità hingegen als Sehnsuchtsort deutscher Naturköstler, Anhängern des damaligen Sexualimmoralismus, anarchophiler Aussteiger und anderer Welt- und Menscheitsverbesserer verschiedenster Couleur bekannt. Nicht wenige von ihnen residierten zuvor in der Münchner Bohème-Metropole Schwabing. Zwar wurden die beiden wichtigsten Heimstätten der drop outs des beginnenden 20. Jahrhunderts schon öfter in einem Atemzug genannt. Selten jedoch einmal wurde die „direkte Linie zwischen München – Schwabing und Ascona – Monte Verità“ so dezidiert ins Zentrum gerückt wie in einer Ausstellung, die 2009 in der Münchner Monacensia zu bestaunen war, und in dem von Ulrike Voswinckel verfassten Begleit-Buch mit dem Titel „Freie Liebe und Anarchie“.
Die von der Autorin eingangs vertretene These, der Monte Verità habe eine Geschichte alternativer „Gegenentwürfe zum etablierten Leben“ im deutschen Kaiserreich zu erzählen, die „gerade in den 1970er-Jahren in sehr ähnlichen Erscheinungsformen wieder in Mode“ kamen, ist keineswegs neu – abgesehen vielleicht von der etwas abschätzigen Wendung am Ende der Formulierung. Das wird von Voswinckel allerdings auch keineswegs in Anspruch genommen. Überhaupt liegt die Qualität das Buches nicht so sehr in innovativen oder gar umstürzenden Thesen, die nötigen würden, das Bild der ‚barfüßigen Propheten‘ einer freien, friedliebenden und natürlichen Lebensweise neu zu zeichnen. Im Gegenteil, die „Nachlässe einiger Protagonisten vom Monte Verità“ verhalfen der Autorin vielmehr dazu, das bestehende Bild genauer und schärfer zu konturieren. Denn eben diese Nachlässe, wie auch gedruckte Tagebücher und Memoiren, bilden einen nicht unbeträchtlichen Teil des Quellenfundus. Vor allem erstere steigern den Gewinn auch für diejenigen unter den Lesenden nicht unbeträchtlich, die mit der Geschichte Schwabings und des Monte Verità schon auf etwas vertrauterem Fuß stehen. Denn Voswinckel lässt die historischen ProtagonistInnen, wann immer möglich, selbst zu Wort kommen. Gelegentlich geht sie darin allerdings auch etwas zu weit, so dass ihr eigener Text hinter all den seitenlangen Zitaten zu verschwinden droht.
Zu den InitiatorInnen und führenden Köpfen des alternativen Lebens am Berg der Wahrheit, der anderen allerdings nur als ausgemachter Narrenhügel gelten mochte, zählten nicht zuletzt die GründerInnen eines Freiluftsanatoriums Ida Oedenkoven und ihr von Annemarie Schwarzenbach als „Vegetarier, Naturmensch und Weltverbesserer“ charakterisierte Ehemann Henry sowie der „ganzheitlich lebende Naturapostel“ Gusto Gräser und, vielleicht mit einigen Abstrichen, sein Bruder Karl. Bald prägte auch der Tanzlehrer Rudolf von Laban mit seinem „Harem“ das Bild des Berges. Zu den bekanntesten Gästen des Monte Verità gehören der Soziologe Max Weber, der später von den Nazis ermordete Anarchist Erich Mühsam und der Schriftsteller Hermann Hesse.
Neben der Verbindung zwischen Schwabing und Ascona richtet Voswinckel ihr Interesse insbesondere auf die Frauen des Monte Verità, wobei sie den „starken“ Angehörigen dieses vermeintlich schwachen Geschlechts einen eigenen kleinen Abschnitt gewidmet hat. Doch bevölkern die „starken Frauen“ in nicht eben geringer Zahl auch die anderen Kapitel des Buches. So stellt Voswinckel etwa die Malerin Marianne von Werfekin, die Lyrikerin Else Lasker-Schüler und die Tänzerin Mary Wigman vor und geht auf deren jeweilige Rolle am Berg der Wahrheit ein. Ebenso Ida Hofmann, die Voswinckel als „‚das Gehirn‘ unter den Gründern“ gilt, Elisabeth Dörr als alleinerziehende Mutter von acht Kindern, Frieda Gross, die „den fragilen Ernst Frick stabilisierte“, Margarethe Hardegger, die „im Alleingang“ versuchte, „die sozialen Arbeits- und Lebensbedingungen der Frauen zu verbessern, und schließlich Olga Fröbe-Kaptein, „die Gründerin der Eranos-Bewegung“. Franziska zu Reventlow ist gar ein eigenes umfangreiches Kapitel gewidmet.
Über sie alle versteht sie informiert und darum informativ zu berichten. Doch idealisiert Voswinckel die Lebenswirklichkeit der Frauen und deren Beziehungen zum anderen Geschlecht am Berg der Wahrheit nicht eben wenig, wenn sie meint, dass Frauen „gerade in der nicht-hierarchischen und nicht-patriarchalischen Gesellschaft des Monte Verità ein freies Leben führen konnten“.
Man denke nur an das von der Autorin durchaus nicht verschwiegene Schicksal Lotte Chattemers, einem Opfer des sich in der Rolle des Anarchisten und Matriarchatsverfechters gefallenden Psychoanalytikers und Kokainisten Otto Gross, der sich glänzend darauf verstand, Frauen ins eigene Bett zu manipulieren. Eine Spezialität, die er im Übrigen mit einigen der Herren Revolutionäre des Jahres 1968 teilte. Gross aber ging gerne noch einen Schritt weiter und redet den von ihm geschwängerten Frauen auch schon mal zu, doch bitte Suizid zu begehen.
Manchmal hatte er Erfolg damit, so etwa bei besagter Lotte Chattemer, für die er auch sogleich das notwenige Gift bereit hatte. Um die Kinder, die andere Frauen, wie seine Gattin Frieda oder auch Regina Ullmann für ihn austrugen, pflegte er keinerlei Interesse aufzubringen. Voswinckel lässt gegenüber dem sich als Frauenfreund gerierenden Misogyn, der für die von ihm propagierte Ideologie und Lebensweise den Neologismus „Sexualimmoralismus“ prägte, daher allzu große Nachsicht walten, wenn sie nur konstatiert, „seine Befreiung der weiblichen Sexualität kam manchmal einem Planspiel gleich, in dem er die Hauptrolle spielte“.
Zweifellos zutreffend ist hingegen, dass „seine Rolle im Kreise der Münchner und Asconeser Bohemiens ungeheuer einflussreich und gleichermaßen produktiv wie destruktiv“ war. Ebenso, dass er dies dazu nutzte, „vorsätzlich immer wieder eine neue Liebesunordnung“ zu schaffen. Dies sei zwar von „der einen Seite als Unheil oder Zerstörungsakt“, jedoch „von der anderen als Befreiung empfunden“ worden. Auch dies ist völlig zutreffend. Nur verschweigt Voswinckel, dass auf der einen Seite, der des Unheils, insbesondere Frauen anzutreffen waren; auf der anderen Gross’ Geschlechtsgenossen, allen voran er selbst. Doch gab es auch Frauen, die Gross in jeder Hinsicht widerstanden. Zu nennen ist vor allem Franziska zu Reventlow, die er vergeblich auf die Couch zu legen versuchte, auf der er mit seinen Patientinnen – wie er vorgab, zum Zwecke der Therapie – den Beischlaf zu vollziehen pflegte. Voswinckel – und das ist nun doch eine originelle und keineswegs ohne Weiteres von der Hand zu weisende Interpretation – liest Reventlows Vielmännerei propagierendes Buch „Von Paul zu Pedro“ als „Antwort“ auf „die von Otto Gross propagierte Revolution für das Matriarchat“.
Ein anderer unter der anarchistischen Maske nicht eben weniger misogyner Frauen-Verführer war der verheiratete Anarcho-Pazifist Gustav Landauer, der seiner Geliebten Margarethe Hardegger antrug, seine Gattin „sofort mit ins Spiel zu bringen“, wie die Autorin lax formuliert. Hardegger war zunächst damit einverstanden, woraufhin ihr Landauer einen Brief schickte, dessen Inhalt Voswinckel dahingehend zusammenfasst, „dass er seine Frau Hedwig in seine Zuneigung zu Margarethe eingeweiht hat, er möchte, dass die Frauen Freundinnen werden, aber er möchte à tout prix das ‚Geheimnis‘ wahren, dass er mit ihr geschlafen hat.“
Außerdem drängte er die engagierte und eloquente Sozialistin Hardegger dazu, in seiner Zeitschrift „Der Sozialist“ zu veröffentlichen. Wie sich versteht, nur in seinem Sinne. Als sie jedoch eine Arbeit über „freie Sexualität und Mutterschaft“ publizieren wollte, versucht er, ihr das – wiederum in einem Brief – auf ebenso paternalistische wie herablassende Weise auszureden. „Schweig! Schweig“, herrschte er sie an und nannte sie ein „armes Kind“, das einen „Kinderweg“ beschreite. Er scheute sich nicht einmal sein anmaßendes Schreiben mit „Der Vater“ zu unterzeichnen.
Auch Gusto Gräser lässt sich in diese Falange der Freiheitsfreunde auf Kosten der Frau einreihen. Fand er doch nichts dabei, eine Frau mit acht von ihm gezeugten Kindern auf dem Monte Verità sitzen zu lassen, um in der Münchner Räterepublik seinen „Kommunismus der Liebe“ predigen zu können.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zog es „verschiedene Monteveritaner“ nach Zürich, weil es um den Berg der Wahrheit zunehmend „einsam geworden“ war, was auch Ursache und Folge davon gewesen sein mag, dass das von den Oedenkovens geführte Sanatorium lange nicht mehr so florierte wie zu Beginn. Nach dem Ende des Massenschlachtens „belebte“ sich die Kolonie der Alternativen und Weltabgewandten allerdings wieder. Nicht unwesentlich daran Anteil hatte Theodor Reuss und sein „Ordens-Tempel des Ostens“.
Im Laufe der zwanziger Jahre verlor Ascona dann mehr und mehr das Flair eines Fischerdörfchens und wurde „allmählich mondän“. Doch bewahrte es sich noch immer seine „Seele für Außenseiter, Spinner und Künstler“.
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