Ein Licht in Europas Finsternis

Muharem Bazdulj erzählt in seinem Roman „Transit, Komet, Eklipse“ die Geschichte, die er schon immer erzählen wollte

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach „Der Ungläubige und Suleika“ ist 2011 ein weiterer Roman des bosnischen Journalisten, Essayisten und Schriftstellers Muharem Bazdulj erschienen. Der 1977 in Travnik geborene Autor geht gerne auf Zeitreisen und bringt seinen Lesern die Geschichte und Geschichten des unbekannten Osteuropa näher. Der immer noch allgegenwärtige Bosnienkrieg ist dabei nicht sein Thema, „weder als Schützengraben-Apotheose der Männlichkeit noch als lyrische Cantilene über die Sinnlosigkeit, noch als Ästhetik des Roten Kreuzes, noch als sadomasochistischer Katalog des Leidens“. Bazdulj (er)findet ganz andere, mitreißende und lesenswerte Begebenheiten.

In dem dreigeteilten Werk „Transit, Komet, Eklipse“ handelt der erste Teil „Transit“ vom Leben eines der letzten Universalgelehrten Südeuropas, Ruđer Bošković (1711-1787). Der Dubrovniker publizierte schon als 12-jähriger Gymnasiast erste Arbeiten zur Astronomie und Geodäsie und wurde mit 14 Jahren zum Weiterstudium nach Rom geschickt. Bazdulj schildert die Reise des gelehrten Jesuiten von Istanbul nach Sankt Petersburg. Im Schutz der Diplomatenkarawane des englischen Botschafters reist er durch das heutige Rumänien, Bulgarien und Moldawien bis nach Polen. Stets macht er genaue Notizen und sich Gedanken über die Bevölkerung dieser „slawische[n] Welt unter Türken“ und erfasst mit seiner Beobachtungsgabe geografische, politische und kulturelle Zusammenhänge in den komplizierten Verhältnissen Osteuropas. Er stellt „überall Unwissen, überall Desinteresse, überall eine seltsame Selbstzufriedenheit“ fest, liest Sueton und denkt an Ovid. Am meisten zieht ihn das Märchenland Moldawien in den Bann, auch wenn der dortige Fürst Callimachi sein Land, als dunklen Fleck auf der Erdkarte und dessen Geschichte, als „eine einzige große Finsternis“, bezeichnet. In Polen findet er nach „dem endlosen Wuchern allgemeiner Barbarei“ endlich Zivilisation und sehr westlich orientierte Adlige und Diplomaten. Ein hartnäckiges Leiden zwingt ihn seine Reise in Warschau abzubrechen.

Der zweite Romanteil „Komet“ beginnt 1990 in Moldawien. Maria Alexandra genießt von Kindesbeinen an alle Aufmerksamkeit ihres Vaters, eines von der Astronomie begeisterten Geografielehrers. Für „die Schönste auf der Welt“ opfert er all seine Freizeit, „erzählte ihr vom Himmel, von den Sternen, von den Kometen. Er erklärte ihr, dass sie im Jahr des Transits des Halley’schen Kometen geboren sei.“

Die Mutter stirbt bei einem Unfall und der Vater erzieht sie zu einer echten Europäerin, macht sie mit fernen Ländern, Städten, berühmten Komponisten und Autoren bekannt: „‚Sie alle haben über Moldawien geschrieben‘ sagte er. ‚Heute aber sind wir das größte Elend in Europa‘“. Sie solle diese „Lebensfinsternis“ verlassen und nach Paris gehen. Als der frustrierte Vater im Klassenzimmer tot zusammenbricht, muss Maria Alexandra zur Großmutter in die Hauptstadt Kischinew. Der Alltag ist hart, die Schule und die desinteressierten Lehrer sind eine Katastrophe. Aber Maria Alexandra hat ihre Zukunftsträume von Westeuropa, recherchiert im Internet nach Studienmöglichkeiten im Ausland. Die zurückgezogene, fleißige Schülerin kommt durch eine Freundin von ihrer Bahn ab, beginnt zu rauchen, zu schwänzen, zu trinken und lernt Boško, einen jungen Mann aus Dubrovnik, einer der Traumstädte ihres Vaters, kennen. Er hat Soziologie studiert und ist ein charmanter, einfühlsamer, adäquater Gesprächspartner. Der schüchternen Annäherung folgen der erste Kuss und Liebesbekenntnisse. Dann werden heimlich Pläne geschmiedet, wie sie am Ende ihrer Abiturreise nach Rimini mit Boško nach Dubrovnik durchbrennen könnte – für immer, wie im Märchen. „Am Tag des Transits der Venus durch die Sonne“ setzen die beiden mit der Fähre nach Kroatien über, allerdings findet das Glück dort ein ebenso jähes wie auch überraschendes Ende.

Im dritten Teil des Romans „Eklipse“ nutzt Bazdulj einen in Dubrovnik geborenen Schriftsteller, sein alter ego, um dem Leser Zusammenhänge, Ausgangspunkte und Hintergrundinformationen zu den Geschichten aufzuzeigen. Wie besessen begibt er sich auf die Suche nach seiner Geschichte. Er liest sich durch die Weltliteratur, übt sich im Schreiben von Buchbesprechungen und Zeitungsartikeln aller Art und stößt bei der Lektüre Paul Austers „New-York-Trilogie“, die von exzessiven Leidenschaften, wie den seinen, handelt, auf den berühmtesten Erfinder Ex-Jugoslawiens, Nikola Tesla. Er musste spontan an denjenigen Jugoslawen denken, der ihn schon als Kind fasziniert hatte und wie er an einem 18. Mai in Dubrovnik geboren wurde: Ruđer Bošković. Die beiden Gelehrten aus dem Osten, die der Westen bestenfalls beiläufig erwähnt, scheinen den Autor motiviert zu haben, ähnlich wie Karl Markus Gauß mit seinen Essays, das bedeutende Unbekannte gekonnt in Szene zu setzen.

Dieser abschließende Teil liest sich wie ein literarisches Making-of im dokumentarischen Sinne. Bazdulj holt die historische Reisedokumentation in die Gegenwart. Neben Bibliotheken, der eigenen Belesenheit und dem Wissen aus Enzyklopädien googelt er Fakten, verrät, dass der Popsong „Total Eclipse of the Heart“, die TV-Serie „Dynasty“ (Der Denver-Clan) oder zwei Filme von Lukas Moodysson sein Schreiben beeinflusst haben. Mitten in die Arbeit an der Bošković-Geschichte platzt der Auftrag, als Ortskundiger eine Journalistin auf eine Reportagefahrt zum Thema trafficking zu begleiten. Emotional betroffen vom Schicksal eines namenlosen Mädchens, das der Sonne gefolgt war, ohne etwas von ihr zu wissen, findet das Erlebte in Form von Maria Alexandras Geschichte Eingang in den Roman über Bošković, der alles über die Finsternis wusste. Verschiedene Textformen intensivieren den Lesegenuss im Grenzbereich von Fiktivem und Autobiografischem: ein Auszug aus dem französischen Reisetagebuch Boškovićs, der Abschiedsbrief Maria Alexandras an ihre Großmutter, tagebuchartige Notizen des Schriftstellers.

Bazduljs intellektuelle Gedankenwelt ist stark von den besten (westlichen) Autoren und Philosophen geprägt, sein Roman rückt ihn selbst in die Nähe seiner Vorbilder. Es ist ihm einerseits gelungen, Geschichte lebendig zu machen. Andererseits nimmt er den Leser mit literarischen Mitteln gefangen und erreicht sein Ziel, eine europäische Finsternis zu erhellen.

Titelbild

Muharem Bazdulj: Transit, Komet, Eklipse. Roman.
Übersetzt aus dem Bosnischen von Detlef Olof.
Seifert Verlag GmbH, Wien 2011.
160 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783902406743

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