Kritik der deutschen Intelligenz

Kurt Flasch schreibt ein wichtiges Buch über die deutschen Intellektuellen im Ersten Weltkrieg

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die menschliche Kultur verdanke sich der Tatsache, dass bei ihr der Generationenwechsel nicht so abrupt erfolge wie bei der Seidenraupe und dem Schmetterling. Diesen Gedanken David Humes zitiert Hannah Arendt zu Beginn eines Textes über Hermann Broch, um sogleich dagegen zu halten, dass in extremen historischen Krisensituationen auch den Menschen das Schicksal von Seidenraupe und Schmetterling ereilen könne. Eine solche Krisensituation, die die von Hume unterstellte Kontinuität der Generationen unterbrochen habe, sieht Hannah Arendt mit dem Ersten Weltkrieg gegeben. Ein "leerer Raum", eine Art "historisches Niemandsland" sei hier entstanden, etwas, das nur mit Bestimmungen wie "nicht mehr und noch nicht" umschrieben werden könne. Ganz ähnlich hat auch der Schriftsteller Hugo Ball im Ersten Weltkrieg eine "Weltpause" erkannt, einen universalen Karfreitag, in dem sich der endgültige Tod des christlichen Gottes verkörpere. Als das Unverständliche schlechthin, das mit den herkömmlichen Kategorien nicht mehr zu Beschreibende und zu Begreifende, forderte der Erste Weltkrieg die nachträgliche philosophische Deutung geradezu heraus. Die Philosophie blieb jedoch stumm. Und auch für die Philosophiegeschichtsschreibung der Nachkriegszeit existierte der Krieg als philosophisches Datum nicht. Es herrschte "kollektive Amnesie", wie Kurt Flasch konstatiert, der mit seinem Buch über "Die geistige Mobilmachung" die Geschichte der Philosophie um ein vergessenes Kapitel ergänzen will.

Das Schweigen zum Krieg nach dem Krieg ist als historisches Phänomen umso bemerkenswerter, als es in genauem Gegensatz steht zu der Geschwätzigkeit, die zu Beginn des Krieges von den deutschen Intellektuellen gepflegt wurde. Wie aber ist die Inflation des kriegsbegleitenden Schrifttums zu erklären? Von Beginn an wurde der Erste Weltkrieg - der "Weltkrieg" hieß, bevor er überhaupt begonnen hatte - als umwälzendes, epochales Ereignis begriffen, das alle herkömmlichen Orientierungen politischer und moralischer Natur obsolet werden ließ. Da es dementsprechend an einer Sinngebung der aktuellen Geschehnisse fehlte, löste der Krieg in den ersten beiden Jahren, wie Flasch formuliert, eine "Welle der Beredsamkeit" aus, die ihresgleichen sucht. In einer von ihm geführten Bibliographie kriegsbegleitender philosophischer Schriften zum Ersten Weltkrieg zählt Flasch inzwischen mehr als 13.000 Titel.

Einige von diesen Titeln hat Flasch ausgewählt und für seine Leser kenntnisreich beschrieben. Es sind vor allem Werke von Rudolf Eucken, Friedrich Meinecke, Ernst Troeltsch, Hermann Cohen, Max Scheler, Paul Natorp, Georg Simmel, Rudolf Borchardt, Hugo Ball und Annette Kolb. Ausführlich lässt Flasch dabei die Schriften selbst zu Wort kommen: Denn auch wenn er letztlich auf die philosophische Argumentation der Texte zielt, so steht im Mittelpunkt seiner Arbeit doch die Analyse ihrer Diktion. Seine Aufmerksamkeit gilt der Terminologie, den rhetorischen Figuren und Stilmitteln, den Metaphern und Zitatverwendungen und den aus all diesen Kategorien erwachsenden Argumentationsverfahren. Diese Vorgehensweise hat Flasch gewählt, um das methodische Problem, sowohl die individuelle Reflexion innerhalb der Texte als auch das Phänomen ihrer Massenproduktion in den Blick zu bekommen.

Von Beginn an hatten die kriegführenden Parteien gewusst, dass sie diesen Krieg vor ihrer Bevölkerung rechtfertigen mussten, dass die Menschen Gründe brauchten, um bei diesem Krieg mitzumachen. So folgte unmittelbar auf die militärische die geistige Mobilmachung, der von den Intellektuellen propagandistisch ausgetragene "Kulturkampf", der dem Gemetzel einen tieferen Sinn zu geben versuchte. Über dieses grobe Schema hinaus verfolgt Flasch, mit welchen historischen Mustern 1914 argumentiert wurde, welche überragende Bedeutung die Theologie und die protestantische Ethik bei der Kriegsrechtfertigung einnahmen, wie Luther eingeordnet und welche Rolle Immanuel Kant zugeschrieben wurde. Deutete man zum Beispiel Kant als geistigen Vater des preußischen Militarismus um oder kritisierte man ihn als Utopisten eines "ewigen Friedens"?

Für Hugo Ball verkörperte Kants Ethik den Inbegriff des preußischen Exerzierwesens. Das war für ihn jedoch ein Grund, Kant anzugreifen, denn Ball ist einer der ganz wenigen Intellektuellen gewesen, die sich bereits im Jahr 1914 zu Gegnern des Krieges erklärten. Dass er die "Kritik der deutschen Intelligenz" geschrieben hat, derjenigen Intelligenz nämlich, die den Krieg philosophisch und essayistisch flankierte, ist insofern konsequent. Engagiert versucht Ball in diesem Buch zu erklären, wie der für den Krieg verantwortliche militante Pangermanismus geistesgeschichtlich gesehen zur Macht gelangen konnte. Nach einer kulturgeschichtlichen Einordnung dieser Bemühung kommt Flasch zu dem Urteil, dass Balls Wertungen ungerecht seien, dass er übereilt argumentiere und dass sein ideengeschichtliches Konzept methodisch höchst bedenklich sei. Wolle man Balls Buch jedoch gerecht beurteilen, so müsse man es neben "den philosophisch-geistesgeschichtlichen Kriegsschriften von Max Scheler, Werner Sombart und Thomas Mann lesen, die es an Verantwortlichkeit, Scharfblick und Erudition immer noch unendlich übertrifft."

Gerechtigkeit ist hier insofern das entscheidende Stichwort, weil auch Flaschs Lektüre der Werke von Scheler, Sombart, Eucken, Troeltsch, Meinecke und Borchardt den einzelnen Texten auf ganz erstaunliche und aussergewöhnliche Weise gerecht wird. In der Regel kehrt man die Kriegsschriften berühmter Autoren unter den Teppich, oder man versucht sie aus der Kriegsbegeisterung der Zeit heraus zu verstehen und zu entschuldigen. Kurt Flasch tut keines von beidem. Er nimmt den Anspruch der Kriegsschriften ernst, philosophische Argumentation über den Krieg zu betreiben. Und so gelingt es ihm durch den Nachweis der unlogischen, unlauteren und höchst unethischen Argumentationsformen schließlich, in den Abgrund bzw. der deutschen Kriegsphilosophie nicht nur hinabzuschauen, sondern einzudringen. Nur weil Flasch bei dieser Verfahrensweise absolut unbestechlich ist (allein der von ihm offenbar verehrte Rudolf Borchardt scheint etwas zuviel Gerechtigkeit abbekommen zu haben), kann er es sich erlauben, auch absolut unpolemisch zu sein. Das Buch, das in einem ungewöhnlich guten Deutsch geschrieben ist, gewinnt dadurch nochmals an Lesbarkeit.

Auf diese Art bewältigt Flasch spielend eine Unmenge von Stoff, denn den Einzellektüren hat er den Versuch einer Gesamtdeutung des Phänomens beigefügt. Zudem widmet er sich in ausführlichen Kapiteln seines Buches auch den Randgruppen der Kriegsphilosophie: den Frauen, den Juden und den Katholiken. Das Epochenbild, das vor diesem Hintergrund entsteht, lässt den heutigen Leser, den inzwischen mehrere kulturzerstörerische Generationensprünge von der Zeit des Ersten Weltkriegs trennen, eine Vorstellung von dem gewinnen, was Hannah Arendt den "leeren Raum" bzw. das "historische Niemandsland" der Weltkriegsvergangenheit genannt hat.

Titelbild

Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2000.
460 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3828601170

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