Anstoß zu weiterer Forschung

Mariacarla Gadebusch Bondio und Hartmut Bettin haben einen Band über die „Medizinische Ethik in der DDR“ herausgegeben.

Von Heinz-Jürgen VoßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinz-Jürgen Voß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Wissen über die Medizin in der DDR ist insgesamt gering, wurde sie mit der DDR in den Wendewirren doch schnell abgewickelt und erschien es DDR-Bürgern/-innen mit dem Zusammenschluss mit der BRD oftmals nicht mehr attraktiv, sich mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen. Hinzu kam eine Entleerung gerade ostdeutscher Bibliotheken von DDR-Literatur, so dass man heute – paradoxerweise – oftmals wissenschaftliche DDR-Literatur aus den Beständen westdeutscher Bibliotheken beziehen muss und sie nicht mehr in den ostdeutschen Bibliotheken findet.

Gerade in Bezug auf Ethik, die darauf angewiesen ist, aus Bekanntem zu lernen und entsprechend der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung jeweils zeitgenössisch passende ethische Perspektiven vorzuschlagen, wäre es fatal, nicht auch die Erfahrungen aus der Ethik in den sozialistischen Ländern, die DDR eingeschlossen, aufzunehmen. Mittlerweile sind auch zwanzig Jahre vergangen, so dass ein nüchternerer Blick auf die Vergangenheit möglich sein sollte, als es in den ersten Jahren nach Ende der DDR der Fall war. Zu schwer wogen zunächst noch Verwundungen; ein Kennenlernprozess musste von beiden Seiten aus in Gang kommen.

Eine solche erste Bestandsaufnahme zur medizinischen Ethik bietet nun der von Hartmut Bettin und Mariacarla Gadebusch Bondino herausgegebene Sammelband „Medizinische Ethik in der DDR – Erfahrungswert oder Altlast?“. Er geht auf eine Tagung zurück, die im November 2009 in Greifswald stattfand und zu der Referent/-innen eingeladen waren, die in der DDR zu Medizinethik aktiv waren und solche, die in der ehemaligen BRD diesbezüglich wichtige Positionen bekleideten und mit DDR-Kolleg/-innen in Kontakt standen.

Die erste, nicht überraschende, aber auf Grund der bereits verstrichenen Zeitspanne zu erwähnende Einsicht ist: In der DDR hat es ethische Betrachtungen zur Medizin gegeben. Das ist nicht verwunderlich, war es doch auch in der DDR nötig, die Verbrechen der Nazi-Diktatur und die Verstrickung der Medizin und auch einer Nazi-„Ethik“ in die Verbrechen aufzuarbeiten und neue Grundlagen für die Ausbildung der Ärzteschaft und des Pflegepersonals zu erarbeiten. Zudem fand auch in der DDR eine technische Entwicklung statt, mit der 1958 – parallel zu München – in Berlin-Buch eine erste Intensivstation eingerichtet wurde und diesbezüglich neuartige ethische Fragen aufkamen. Herausforderungen für das ärztliche Handeln und eine medizinethische Positionierung waren unter anderem auch die Möglichkeit der Transplantation von Organen und die In-vitro-Fertilisation, deren Entwicklung und Einführung in der DDR nahezu zeitgleich zur BRD erfolgten. Schließlich verlangte die in der DDR umgesetzte Legalisierung des Schwangerschaftsabbruches innerhalb festgelegter Fristen, dass ethische Fragen zur Menschenwürde – und ab wann und in welchen Abstufungen diese auch für menschliche Embryonen zu gelten hat – geklärt werden mussten. Richard Toellner hält im Band fest: „In der Deutschen Demokratischen Republik schwoll seit den siebziger Jahren wie in der Bundesrepublik die Literatur zu Fragen der Ethik in der Medizin stetig an. Auch die Themen waren vergleichbar: von A (wie Aufklärung des Patienten) bis Z (wie Ziel-Mitteldialektik in der Medizin), von der In-vitro-Fertilisation bis zum humanen Sterben, vom Eid des Hippokrates bis ‚zur Entwicklung der marxistisch-leninistischen Ethik in der DDR‘, man setzte sich mit der Ethik der ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ Albert Schweitzers auseinander wie mit der ‚Medizin unter dem Hakenkreuz‘.“

Neben den Parallelen gibt es aber interessante Unterschiede, die eine genaue Untersuchung gerade so interessant machen: 1) So wurde in der DDR ein stärkeres Gemeinwesen als in der damaligen BRD etabliert, was bedeutete, dass die individuelle Position des Patienten beziehungsweise der Patientin zurücktreten konnte. Gesunderhaltung und gute medizinische Behandlung prägten die Aufgabe der Ärzteschaft und des Pflegepersonals – diese Ziele konnten den Behandlungsprozess dominieren und beispielsweise bei einer unheilbaren Krebserkrankung dazu führen, dass der Patient / die Patientin von der Erkrankung nicht in Kenntnis gesetzt wurde. Die Information, die ein/-e Patient/-in erhielt konnte damit beschnitten und eine selbstbestimmte Entscheidung ausgeschlossen sein – aus anderen Gründen, als dies aktuell der Fall sein kann, wenn Ärzte/-innen auf eine umfassende Aufklärung der Patienten/-innen etwa wegen Zeitmangel oder Überschätzung ihrer Experten/-innen-Position verzichten. In der DDR wurden damit „kaum dezentrale, pluralistische und vordergründig dem Wohl des Einzelnen verpflichtete Ansätze“ entwickelt. „Gesunderhaltung“ wurde in der DDR auch an die Bürger als eigene Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen herangetragen – die nüchterne Erörterung der ethischen Dimension steht noch aus.

2) Ein zweiter gewichtiger Unterschied ist, dass die Kultur privater Einzelpraxen in der DDR zu Gunsten staatlicher Behandlungseinrichtungen aufgegeben wurde, in denen Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal angestellt waren. Das bedeutete dass mögliche individuelle Spielräume, die Ärzte/-innen in Einzelpraxen haben können, verringert wurden. Es war damit nicht nötig, dass jede Ärztin und jeder Arzt eine Versicherung für etwaige Schadensersatzansprüche hatte, sondern diese wurde von den Gesundheitseinrichtungen beziehungsweise durch eine staatliche Versicherung übernommen. Gleichzeitig verringerten sich Wege für Patienten/-innen; die jeweiligen Krankenakten wurden unter den behandelnden Ärzten/-innen weitergegeben, dies galt nicht als Verletzung der Datenschutzpflicht.

3) Mit der Aufgabe des Modells nicht-staatlicher Einzelpraxen verbunden war ebenso die Abschaffung standespolitischer Ärzteorganisationen und die Aufwertung des weiblich dominierten Schwesternberufes, unter anderem durch weitgehend ähnliche Gehälter, die Ärzte/-innen und Pflegeschaft erhielten. Darüber hinaus wurden der Verantwortungsbereich und das Prestige der Pflegeberufe ausgebaut. 4) Und ein wiederum interessanter Aspekt ist, dass ökonomische Fragen unter anderen Aspekten diskutiert wurden als es in der damaligen BRD der Fall war, etwa zu fehlenden Materialien. Hingegen gab es keine Unterscheidung der in der individuellen Behandlung medizinisch dargebotenen Maßnahmen, wie sie heute von Patienten bereits auf Grund der Teilung in Privat- und Kassenversicherung empfunden wird.

Aus diesen Gemeinsamkeiten der gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen und ebenso festgestellten Unterschieden zeigt sich, dass es interessant ist, die jeweiligen gesellschaftlichen Diskussionen und beschlossenen Antworten zu vergleichen und in der medizinethischen Dimension zu betrachten. Was bedeutete es etwa für die Beziehung Patient/-in zu Arzt/Ärztin und Pflegepersonal, wenn die Position des Pflegepersonals gestärkt war, dieses auch selbstbewusster als Fachkräfte auftreten konnte und die Hierarchisierung zu Ärztinnen und Ärzten damit ein Stück weit gebrochen war? Brachten sich die weiblichen und männlichen Krankenschwestern deutlicher in die Diskussion um die Behandlung mit ein und was bedeutete dies für die Betreuung und Behandlung der Patienten/-innen? Was bedeutet Materialmangel im medizinischen Kontext? Hat er neben den damit nicht zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten weitere Auswirkungen, wie, dass möglicherweise mehr Zeit und Empathie von den Behandelnden eingesetzt werden konnte, um diesem Mangel „auszuweichen“ und anderweitig auszugleichen? Welchen Einfluss hatte schließlich die stärkere Position des Gemeinwesens in der Behandlungssituation und welche Auswirkungen ergaben sich für die selbstbestimmte Entscheidung eines Patienten / einer Patientin?

Der vorliegende Band eröffnet insbesondere diese Fragen und gibt erste Antworten. Er gibt einen Überblick über die Entwicklung der medizinischen Ethik in der DDR und – dieser Wert ist für Folgearbeiten nicht zu unterschätzen – gibt durch Quellen- und Literaturhinweise einen Einblick in das zu untersuchende Material und Hinweise auf dessen aktuellen Verbleib. Schließlich werden die medizinethischen Entwicklungen und Debatten in der DDR vorgestellt. Dadurch, dass gerade auch Medizinethiker/-innen, die in der DDR wirkten, zu Wort kommen, kann ihre Kenntnis und Wahrnehmung in die weitere Debatte mit eingehen. Gleichzeitig ist in der folgenden Bearbeitung der Thematik auch diese Eigenbewertung zu prüfen, damit verschiedene Positionen möglich werden – eine intensive Diskussion wäre wünschenswert. Eigene Positionierung und Bewertung wird dabei heute nicht per se als schlecht bewertet, ist es doch auch heute Standard, dass die selben Teams von Ärztinnen und Ärzten nachdem sie medizinische Behandlungen vorgenommen haben, diese in späteren Erhebungen der Behandlungsergebnisse („Outcome-Studien“) auch evaluieren. Gleichzeitig wäre jeweils ein kritischer Außenblick angezeigt, um etwaige blinde Flecken oder auch bewusste Verschiebungen von den direkt Involvierten zu bewerten.

Auf einen interessanten weiteren Aspekt sei an dieser Stelle noch hingewiesen. So beschäftigt sich Viola Schubert-Lehnhardt in ihrem Beitrag mit dem „christlich-marxistischen Dialog“ und arbeitet heraus, dass die kirchlichen Einrichtungen im DDR-Gesundheitswesen einige Möglichkeiten hatten, auch weil die entscheidenden Gremien in der DDR über die kirchlichen Kontakte in die BRD Materialknappheit und Versorgungsdefizite zu beheben suchten. Schubert-Lehnhardt postuliert zu möglichen Gründen: „Für die Situation der DDR beispielsweise scheint es mir durchaus denkbar, dass die Regierung die Zusammenarbeit auf medizinischem Gebiet schon deshalb toleriert bzw. unterstützt hat, weil dadurch die weitere finanziell-technische Hilfe für kirchliche Krankenhäuser seitens der Brudergemeinschaften aus der BRD gegeben war und damit ein offensichtlicher Engpass (z. B. Betreuungsmöglichkeiten von Schwerstgeschädigten) zumindest gemildert werden konnte. Und seitens der Kirche haben diese qualitativ hochwertigen Betreuungsstandards natürlich erheblich zum positiven Image beigetragen.“

Fazit: Der Sammelband gibt einen guten Einstieg in Betrachtungen zur Medizinethik in der DDR. Es werden Quellen- und Literaturangaben ausgebreitet, die für die weitere Debatte unentbehrlich sein werden und es ist zu wünschen, dass der Band weitere Forschungsarbeiten zu medizinethischen Diskussionen und Institutionen in der DDR und im Vergleich zur BRD und Westberlin (mit seinem alliierten Sonderstatus) anstößt.

Titelbild

Mariacarla Gadebusch Bondio (Hg.) / Hartmut Bettin: Medizinische Ethik in der DDR. Erfahrungswert oder Altlast?
Pabst Science Publishers, Lengerich 2010.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783899676679

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