Walter Benjamin schlägt zurück

Neue Forschungsergebnisse aus dem von Sigrid Weigel und Daniel Weidner herausgegebenen Band der „Benjamin Studien“

Von Gabriele GuerraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Guerra

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein erstaunliches Nachleben“ haben die Schriften Walter Benjamins, so die Herausgeber der zweiten Zeitschriften-Ausgabe der „Benjamin-Studien“, die dem Berliner Philosophen und Kritiktheoretiker gewidmet ist. Und in der Tat scheint die Wirkungsgeschichte Walter Benjamins in einer neuen Hochphase angekommen zu sein – oder, um es mit Benjamin selbst zu sagen, die Jetztzeit der Lesbarkeit wieder erreicht zu haben.

Die extreme Konjunktur Benjamins zeigt sich in dieser Zeitschrift, die mit dieser Nummer ihren zweiten Jahrgang feiert. Sowohl in der klassischen „Kanonisierung“ seiner Werke, als auch in seiner „revolutionären“ Umfunktionierung, ist doch Benjamin nach wie vor jener Denker „zwischen den Stühlen“, von dem seit den späteren 1960er-Jahren die Rede war. Ein Denker also für alle Zeiten, im negativen wie im positiven Sinn. Und doch, so halten die Zeitschriftherausgeber Daniel Weidner und Sigrid Weigel richtig fest, „gibt die polarisierende Kraft seiner Texte immer wieder neuen Anlass zu Streit und Polemik“: Ein unzweifelhafter Beweis für das ungebrochen hohe Potenzial seines Denkens in der kulturpolitischen und -philosophischen Öffentlichkeit.

Somit sind die vorliegenden „Benjamin-Studien“ – und gemeint sind hier zugleich die Zeitschrift und ein neugeprägtes Fachgebiet – ein Feld für Perspektiven, Ergebnisse und Spannungen der Benjaminologie, die sich nunmehr als Begriffs- und Rezeptionsgeschichte zugleich etabliert hat. Hier sind zum Einen die Akten einer Antwerpener Tagung von 2009 zu „Walter Benjamins ‚Treue‘“ enthalten (die schon im Titel „in ironischer und auch polemischer Absicht“ auf die delikate Frage der Kanonisierung eines an sich unkanonisierbaren Denkens abhebt). Zum Zweiten finden sich hier die Beiträge eines Berliner Symposiums über „Anthropologie und Aphorismus bei Benjamin“ von 2010 und darüber hinaus gibt es Aufsätze, die sich als Beiträge zu einer internationalen Diskussion über die quellenkritischen und -editorischen Kriterien der neuen Suhrkamp-Werkausgabe Benjamins verstehen.

Die Gliederung des Bandes spiegelt die Konzeptionen der Tagungen nicht streng wider, vielmehr sind begriffliche und figurale Kategorien leitend: So stehen „Photo-Graphien“ und „Buchstaben“ für jene Aspekte Benjamins Denkens, die Benjamins Interesse für das Grafische des Bildes und die Sprache bezeugen; hier dokumentiert durch die Aufsätze von Kathrin Yacavone („Die Photographien ‚zu ihrem Rechte kommen lassen‘. Zu Roland Barthes’ Rezeption von Benjamins ‚Kleiner Geschichte der Photographie‘“), Michael Jennings („Double Take. Palimpsestic Writing and Image-Charakter in Benjamin’s Late Prose“), Philipp Ekardt („Die Bestimmung der Aufnahme. Licht und Graphie bei Walter Benjamin“), sowie die Texte von Arno Dusini („Das Buchstabieren Benjamins“) und Malte Kleinwort („Zur Desorientierung im Manuskript der Vorrede zu Benjamins Trauerspielbuch“).

Die folgende Sektion mit dem Titel „Setzungen“ ist den konkreten philosophischen Konsequenzen der ersten beiden Teile gewidmet, nämlich der ursprünglich sprachphilosophischen Frage nach der theoretischen Fixierung des Denkens bei Benjamin: Dominik Finkelde („Ad hominem. Karl Barths und Walter Benjamins performative Sprachprophetie“) geht möglichen gemeinsamen Aspekten zwischen dem neuen Offenbarungsverständnis der existentiellen Theologie und dem Wissenschaftsverständnis Benjamins nach. Er bettet dafür das Theologieverständnis Walter Benjamins in die bisher relativ unbeachtete Perspektive der protestantischen Theologie ein, und läuft dabei jedoch Gefahr, seine Thesen etwas zu weit in Benjamins früher Tätigkeit belegen zu wollen, da der Name von Karl Barth im Benjamins Briefwechsel bis 1930 (einer wertwollen Fundgrube für Benjamins Interessen und Lektüren) kein einziges Mal auftaucht. Jenseits biografisch-philologischer Festlegungen ist Finkeldes Betonung einer „nicht-prädikative[n] Dimension der Sprache“ bei Barth und Benjamin wichtig, durch die sie beide zweifellos in die deutsche Geistesgeschichte eines ‚radikalen‘ – also grund-legenden und sprach-kritischen – Denkens einzureihen sind.

Im folgenden Beitrag von Birte Löschenkohl („Entweder/Und, Wiederkunft/Erlösung“) geht es um Benjamins Lektüre von Auguste Blanqui als Denkbild für eine kapitalistische Zeit; beide intellektuellen Leistungen werden als paradoxes double-bind-Denken verstanden. Nitzan Lebovic setzt auf „Benjamin’s Nihilism. Rhythm and Political Stasis“, das heißt auf Benjamins politische Begrifflichkeit im Umfeld des Nihilismus, die in eine „radikale Hermeneutik“, ja in eine „provocative threshold“ zwischen messianischer Hoffnung und pessimistischer Enttäuschung mündet.

Die vierte Sektion heißt „Figuren“ und thematisiert verschiedene Denkfigurationen Benjamins mit starker Allegorese. Daniel Weidner („Fort-, Über-, Nachleben. Zu einer Denkfigur bei Benjamin“) zielt auf den Zusammenhang von Leben und Nachleben bei Benjamin, der eine „gespenstische Zeitlichkeit“ und einen Lebensbegriff zwischen Vergänglichkeit und Unsterblichkeit mit sich bringt. Maria Teresa Costa fragt nach dem „destruktiven Charakter“ („Für ein Ethos des destruktiven Charakters im Ausgang von Walter Benjamins“), während Jose M. González García die kulturpolitische ikonografische Relevanz des Engelbildes illustriert („Walter Benjamin: The Angel of Victory and the Angel of History“). Die „Lektüren“ der folgenden Sektion beziehen sich vor allem auf einzelne Aspekte der intellektuellen Biografie Benjamins: „Zwischen emanzipatorischem Appell und melancholischem Verstummen. Walter Benjamins Jugendschriften“ von Johannes Steizinger und „Geist ist das Vermögen, Diktatur auszuüben’. Carl Schmitts Marginalien zu Walter Benjamin“ von Reinhard Mehring.

Die Sektion „Aphorismen“ erhellt die Beziehung Walter Benjamins zu verschiedenen Intellektuellen und Gattungen seiner Zeit: zu Paul Valéry (Werner Helmich, „Zwei Poetiken der Diskontinuität. Valéry Rhumbs und Benjamins Einbahnstraße“) zur Rhetorik (Justus Fetscher, „Zeilenwelt. Strukturen der monumentalen Rede bei Walter Benjamin“), zu Giacomo Leopardi (Heinrich Kaulen, „‚Der ironische Engel‘. Walter Benjamins Lektüre von Giacomo Leopardi im Spannungsverhältnis der Aphoristik nach 1800 und der zeitgenössischen Anthropologie“) und bis hin zur Kunst der Aphoristik (Friedemann Spicker, „Benjamins Einbahnstraße im Kontext des zeitgenössischen Aphorismus“).

Im Zentrum der letzten Sektion des Bandes steht eine kritische Diskussion um die neue Benjamin-Ausgabe. Zum Einen zeigt Burkhardt Lindner („Publizität für das Dickicht der Texte. Zur Arbeit an der neuen Benjamin-Ausgabe“) die grundlegenden Unterschiede zwischen der historischen Suhrkamp-Ausgabe der Gesammelten Schriften und der neusten Werkausgabe auf, in der – so Lindners Schlussfolgerung – „die Mühen des Editors […] ein Stück weit hinter den Primat der Texte“ verschwinden. Zum Zweiten polemisiert Davide Giuriato über eben diese Edition („Kritische Überlegung zur neuen Gesamtausgabe der Werke Walter Benjamins“), die nun „uneinheitliche Kriterien“ verfolge und die quellenkritisch entscheidende Hauptunterscheidung zwischen Nichtveröffentlichtem und Publiziertem verschwinden lasse. Zum Drittem und Letztem erklärt Detlev Schöttker die vielen nach wie vor existierenden Lücken des Nachlasses in den Veröffentlichungen der Texte von und um Walter Benjamin („Was ist bei Benjamin ‚Werk‘, was ‚Nachlass‘? Zu den archivarischen Voraussetzungen der Kritischen Gesamtausgabe“).

Die Beiträge dieser Zeitschriftenausgabe bezeugen zusammenfassend die Reichhaltigkeit und das polemische Potenzial in der heutigen Debatte um Benjamins theoretisches Erbe weiter.

Titelbild

Sigrid Weigel / Daniel Weidner (Hg.): Benjamin-Studien 2.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2010.
352 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770550715

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