Ein Grinsen ohne Katze

In der Essaysammlung „Die Katze, der Regen, das Totenreich“ erweist Joachim Kalka dem Flüchtigen und Unscheinbaren die Ehre

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer hat das nicht schon einmal erlebt: Eine literatur- oder kulturgeschichtliche Studie, die zwecks Erhärtung einer These eine Fülle von Belegmaterial in Form von Zitaten und Literaturverweisen ausbreitet, welches die Aufmerksamkeit des Lesers derart fesselt, dass die These darüber aus dem Blick gerät und womöglich auch, dass diese gar nicht so triftig ist. Allein umsonst war die Lektüre nicht. Man könnte nun etwas salopp sagen: Joachim Kalka spart sich die These und präsentiert uns gleich die Fundstellen aus der Literaturgeschichte. Aber wie er das macht! Gleich im ersten Essay über den Teufel spannt der belesene Übersetzer Kalka einen Bogen von Zitaten von Hiob über die Romantik bis zu Bret Easton Ellis, in dem die Imagination des Widersachers Gottes in ihren zahlreichen Facetten Gestalt gewinnt und er als Personifikation des menschlichen Wunschtriebes erscheint; man kann ihn verstehen als „einen Experten der Wunschmechanik“, einen „übernatürlichen Handlungsreisenden in Sachen Begehren“. Das ist eine Beobachtung, die beim Gang durch die Literatur wie von selbst abfällt und keine These, auf die bündig hinargumentiert würde. Die „Generallinie“ der Essays ist daher auch weniger „das Argumentieren durch Zitate“, sondern – der Verfasser schwächt es selbst ab – das „argumentativ gefärbte Herzeigen von solchen“. Die Fundstellen werden nicht auf eine Linie gebracht, sondern in diesen, bescheiden „Ehrfurchtsnotizen“ genannten, essayistischen Betrachtungen so arrangiert, dass sich in den Zwischenräumen wie von selbst Deutungen ergeben.

Von ebensolchem kulturgeschichtlichen Gewicht und Volumen, dass das Belegmaterial für eine größere Studie ausreichen würde, sind Kalkas imagologische Betrachtungen über „Europa und das Kismet“. Wieder anhand von prägnant ausgewählten Stellen wird der Topos der orientalischen Schicksalsgläubigkeit umrissen und auf das europäische Schicksalsdenken bezogen. So verschiedene Autoren wie Rudyard Kipling und Iwan Gontscharow mit seinem „Oblomov“ treten so überraschend in eine Nähe zueinander.

Von großer Liebe zum Gegenstand ist die kleine ikonografische Studie über die Katze in ihrer kulturgeschichtlichen Symbolik getragen. Da darf die Cheshire-Katze aus Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ als wohl berühmteste Katze der Weltliteratur nicht fehlen. Das Grinsen, das von diesem Tier zurückbleibt, wenn sie selbst schon verschwunden ist, war für den Kommentator Martin Gardner eine gute Definition der reinen Mathematik, doch ein ähnlicher Charme eignet auch dem essayistischen Verfahren von Joachim Kalka, der lieber das Beiläufige und als marginal Angesehene im Spiegel von Zitaten zum Sprechen bringt, als „Hauptsachen“ in Thesenform darzulegen.

Kalkas Verfahren des assoziativen und suggestiven Konturierens eines Phänomens entfaltet sich so richtig bei drei Alltagserscheinungen, die wegen ihrer Flüchtigkeit unterhalb der Bedeutsamkeitsschwelle jeder kulturwissenschaftlichen Forschung liegen dürften: dem Regen, dem Halbschlaf sowie dem Tabakrauchen. Man hat den Eindruck, nur so – als bescheiden daherkommende kommentierte Stellensammlung – sei eine solche kleine Phänomenologie möglich und nicht im wissenschaftlichen oder philosophischen Zugriff des Theoretisierens, der die Alltagsdinge prätentiös mit Bedeutsamkeit auflädt, was leicht unfreiwillig komisch werden kann. Martin Heideggers hochmetaphysische Ding-Reflexionen legen ebenso Zeugnis davon ab wie neuerlich die Aufwertung von allen möglichen Alltagsphänomenen zum Objekt kulturwissenschaftlicher Studien. Was dem französischen Ding-Dichter Francis Ponge vor siebzig Jahren in „Le Parti Pris des Choses“ als poetische Phänomenologie gelungen ist – auch er hat übrigens dem Regen ein kleines Porträt gewidmet –, das leistet Kalka auf seine Weise, indem er die sonst kaum bewusst in den Blick genommenen Phänomene einzig mittels findig zusammengestellter und klug interpretierter Zitate aus unterschiedlichsten Kontexten beleuchtet, ja zum Leuchten bringt, ohne dass der Eindruck des „Sekundären“ entstünde. Dass auch die bildende Kunst und der Film herangezogen werden, gerade in der Betrachtung über das Rauchen als Gebärdensprache, ist eine zusätzliche Bereicherung. Der Verfasser erzählt nie naiv nach, sondern lenkt dezent analytisch unseren Blick auf gemeinhin Übersehenes, wenn er das Rauchen anhand von Stellen aus der Literatur und aus bekannten Filmklassikern als „Gebärdensprache und Identitätsstrategie“ interpretiert. Ausschließlich um Filmklassiker geht es schließlich in einem Beitrag, der das Moment der Improvisation in bekannten Stummfilmkomödien von Charlie Chaplin bis Karl Valentin in exemplarischer Szenenanalyse zum Kern einer kleinen Poetik des Slapstick macht.

Kalka, der stupend belesene Übersetzer aus mehreren Literaturen, kennt keine Berührungsängste gegenüber dem Trivialen, was er bereits in dem Bändchen „Hoch unten. Das Triviale in der Hochkultur“, ebenfalls bei Berenberg erschienen, fruchtbar gemacht hat. Nicht wenige der Trouvaillen stammen aus entlegenen Werken von bei uns kaum bekannten Autoren, namentlich aus der angelsächsischen Literatur, die ohnehin keine klare Grenze zwischen Hoch- und Trivialliteratur kennt, so dass nebenher so manche Entdeckung zu machen ist. Die zum größten Teil fremdsprachige Essayistik, die dem Berenberg-Verlag – nicht zuletzt auch durch die sehr ansprechend gestalteten Bände – sein Profil gibt und die sich wohltuend von den Theorieambitionen so mancher deutschen kulturphilosophischen Essays abhebt, erfährt durch die Stimme von Joachim Kalka eine wertvolle Bereicherung.

Titelbild

Joachim Kalka: Die Katze, der Regen, das Totenreich. Ehrfurchtsnotizen.
Berenberg Verlag, Berlin 2012.
142 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783937834511

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