Die Sorgen der Hühner
In acht neuen Erzählungen Ralf Rothmanns wird die raue Wirklichkeit mit Wunsch und Traum konfrontiert
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAcht neue Texte hat Ralf Rothmann (Jahrgang 1953) zusammengestellt und unter dem Erklärungsbedarf weckenden Titel „Shakespeares Hühner“ veröffentlicht. Wie immer versteckt sich, wenn Rothmann zu Tiermetaphern greift, eine Anspielung auf uns Menschen dahinter. Man findet sie im zweiten Text des Bandes, „Othello für Anfänger“. Eine der beiden jungen Heldinnen, die darin erste Erfahrungen mit Sexualität und Eifersucht machen und damit ihre Freundschaft im Laufe eines kurzen Urlaubs zerstören, rekapituliert gegen Ende der Erzählung Lektüreerfahrungen mit einem schon etwas angestaubten Buch über die Elisabethanische Epoche auf dem Theater. Da dessen Autor statt des Begriffs „Helden“ das heute weniger gebräuchliche „Hünen“ verwendet habe, sei ihr beim Lesen immer automatisch „Hühner“ in den Kopf gekommen. Der Passus schließt: „… nach einem Blick in den Duden fand ich, dass meine Schusseligkeit auch ihre Logik hatte, denn angesichts der Sorgen und Nöte seiner [i. e. Shakespeares – D. J.] Gestalten, die ihre finsteren Schicksale wie riesige Kreuze mit sich herumschleppen, sind wir eigentlich nur Hühner, oder? Shakespeares Hühner. Wir machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram…“.
Friederike, der Ich-Erzählerin in „Othello für Anfänger“, hilft diese Erkenntnis über die Krise hinweg, auch wenn sie ihrer Freundin Dinah letztlich nicht mehr nahekommt. Andere Gestalten in Ralf Rothmanns Erzählungen bekommen es ebenfalls zu spüren, dass der Weg zum Wahren und Essenziellen häufig bereits an kleinen Hindernissen endet. Wie oft verbergen sich gerade in Winzigkeiten unüberwindbare Mauern für den Einzelnen. Mauern des Schweigens, Mauern des Missverstehens, Mauern zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Mensch und Mensch, Kind und Erwachsenem. Mauern, über die man letztlich nicht hinwegkommt und die das Leben so unendlich schwierig machen können, dass es sich schon wieder lohnt, darüber zu schreiben.
Warum zum Beispiel kommen sie nicht zusammen, die junge, auf ein Jahr Arbeit in Paris zurückblickende Frau und der Fremde, den sie in einem Café aus der Ferne beobachtet? Während alle anderen Menschen in ihrer Umgebung einen nichtssagenden Eindruck auf sie machen, während sie mit leiser Verzagtheit an ihre viel zu große Berliner Maisonette-Wohnung denkt und den Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens dort wird verbringen müssen, fühlt sie sich angezogen von dem „Wesentlichen“, das der geheimnisvolle Unbekannte ausstrahlt. Doch zu mehr als ein paar Worten – in denen sich allerdings momentweise ungeheure Möglichkeiten auftun – reicht es nicht. Es bleibt ein Traum, der vor der tristen Realität keinen Bestand hat. So nachzulesen in der kürzesten und schönsten Erzählung des Bandes, „Abschied von Montparnasse“.
Andere Texte thematisieren die deutsch-deutsche Vergangenheit, Schuld, die auf Vergebung hofft, und das tragische Sich-Verlaufen in den ideologischen Angeboten des Jahrhunderts der Ismen. Und immer wieder finden sich Suchende in Rothmanns Erzählwelt – man ist auf der Jagd nach dem richtigen Glauben, dem wahren Leben, dem passenden Gefährten und nicht zuletzt nach sich selbst. Doch den entscheidenden Schritt, der herausführen würde aus dem je individuellen Verhängnis, traut sich kaum jemand zu. Und so sind die meisten Figuren Scheiternde in dem Sinne, dass sie zwar ganz genau wissen, was sie nicht wollen, ihnen letztlich aber der Mut fehlt zu dem, was sie ohne zu zögern tun sollten.
Rothmann, der aus dem Ruhrgebiet stammt – die Erzählung „Alte Zwinger“ erinnert noch einmal an eine Kindheit inmitten von Zechen und Arbeitersiedlungen – und heute in Berlin lebt, besaß schon immer eine starke Affinität zu Helden, die ihren Weg in die Gesellschaft ganz unten beginnen, ohne je den Gipfel der Pyramide zu erreichen. Irgendwann auf dem Weg nach oben kommen sie ins Stolpern, packt sie das Nachdenken, scheitern sie an Widerständen, die oft genug in ihrer eigenen Disposition begründet liegen. Da darf es schon als Erfolg verbucht werden, wenn einer wie der Hilfspfleger Oswald Gabriel in „Sterne, tief unten“ von seinem Chef mit der Aufgabe betraut wird, an den Wochenenden den Leichenstau in den unterirdischen Krankenhauskellern zu beseitigen. „Onkel Gabi“, wie sie den einfältigen Kraftprotz mit der Knasttätowierung nennen, ist nicht an gewerkschaftliche Satzungen gebunden und lebt ganz allein auf der Welt. Im Unterschied zu den toten Kindern, Erwachsenen und Alten, die er in die Kühlräume trägt, besitzt er sein Leben allerdings noch. Und das überrascht ihn schließlich mit der ganz besonderen Freundschaft zu einem kleinen Jungen aus der Nachbarschaft der Klinik, die ihn ganz am Ende sogar noch anfangen lässt zu dichten. Kann es eine schönere Pointe geben?
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