Soziologischer Kollateralschaden
Melancholie, Weltschmerz, Depression: Alain Ehrenberg beschreibt das „Unbehagen in der Gesellschaft“
Von Stefana Sabin
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Der Barbar,“ hatte Sigmund Freund erkannt, „hat es leicht, gesund zu sein, für den Kulturmenschen ist es eine schwere Aufgabe.“ Die ständige Anstrengung, diese schwere Aufgabe zu bewältigen, ein Kulturmensch zu sein mache krank, glaubte Freud. Während Melancholie und Weltschmerz als Stimmungen galten, wurde die Neurose als behandlungsbedürftige Störung angesehen, und wird die Depression als Krankheit betrachtet. Tatsächlich ist sie die am öftesten diagnostizierte psychische Krankheit in der westlichen Welt heute – und ihre rasante Ausbreitung beschäftigt nicht nur Mediziner und Psychologen, sondern auch Soziologen.
Der Soziologe Alain Ehrenberg, 1950 in Paris geboren und am „Centre National de Recherche Scientifique“ tätig, hat in einer Studie von 1998 eine soziologische Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Befindlichkeit durchgeführt und die Ursache der Depression in einer „Kultur der Autonomie“ und der damit zusammenhängenden Überforderung des Individuums ausgemacht. Ehrenberg definierte die Depression als „fatigue d’etre soi,“ als Müdigkeit, selbst zu sein – der Ausdruck „Das erschöpfte Selbst,“ so der griffige Titel der deutschsprachigen Ausgabe, wurde in das alltägliche Psychovokabular aufgenommen.
Auch Ehrenbergs neue Studie hat einen griffigen Titel: „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ spielt auf Freuds „Unbehagen in der Kultur“ an und suggeriert eine zeitdiagnostische Gesamtdarstellung. Die These der vorhergehenden Studie wird hier aufgenommen, neu entfaltet und rhetorisch angereichert.
Ausgehend von den fortschreitenden Individualisierungsprozessen, die zur Erschöpfung des Selbst führen, beschreibt Ehrenberg jetzt einen allgemeinen gesellschaftlichen Strukturzerfall der traditionellen Gruppen, Klassen und Institutionen und diagnostiziert eine „société du malaise,“ so der Originaltitel – ein „Unbehagen in der Gesellschaft“ eben.
Die Quelle dieses Unbehagens, so Ehrenbergs These, ist die Befreiung des Individuums von Klassen- und Gruppenzugehörigkeit und von entsprechenden institutionell und gesellschaftlich sanktionierten Normen. Diese Befreiung kommt einer regelrechten Aufforderung zur Selbstfindung gleich. Die Selbstfindung wird zur Bedingung von Individualität und Autonomie. So tritt an die Stelle der herkömmlichen „Pflicht“, klassenspezifische Regeln einzuhalten, die Möglichkeit, subjektiv empfundene Potentiale zu entfalten. Also nicht mehr die Einhaltung bzw. Vernachlässigung von Pflichten, sondern die Entfaltung und das Ausleben eigener Fähigkeiten bestimmen das Verhältnis von Individualität und Autonomie. Das Über-Ich, könnte man sagen, hat seine Macht über das Ich verloren! Das heißt aber auch, dass das von institutionellen und gesellschaftlichen Einschränkungen befreite Individuum – also das freie Ich – für sein Glück und dementsprechend für sein Unglück selbst verantwortlich ist. Gerade deshalb ist das individuelle Streben nach Glück stets von einer Angst vor dem Scheitern der glücksverheißenden Anstrengungen begleitet, und der Normalzustand ist ein permanentes Leiden am Ideal, genauer: ein Leiden am Nicht-Erreichen des Ideals. Der Übergang von einem herkömmlichen Autoritätsmodell, das der Selbstfindung entgegenstand, zu einem individualpsychologischen Modell, das eine Verpflichtung zur Selbstfindung impliziert, lässt spezifische Pathologien entstehen, in denen sich das Unbehagen in der Gesellschaft manifestiert.
Das Unbehagen in der Gesellschaft – ebenso wie das erschöpfte Selbst – ist für Ehrenberg der Preis für den Pflichtverlust und die dadurch aufkommende individuelle Selbstentfaltungspflicht, das sich als Sprachspiel manifest wird, wobei Ehrenberg nicht das wittgensteinsche Sprachspiel als ein „in sich geschlossenes System der Verständigung“ meint, sondern ein Interaktionsmuster zwischen Individuum und Gesellschaft, also zwischen individueller und gesellschaftlicher Selbstreflexion. Weil das Sprachspiel den Stand gesellschaftlicher Selbstreflexion widerspiegelt, ist es je nach Gesellschaftsstruktur verschieden. Der Vergleich verschieden ausgestalteter Selbstreflexionsstile in Frankreich und den USA bildet den Hauptteil von Ehrenbergs Buch.
„Der Begriff der Autonomie spaltet die Franzosen, während er die Amerikaner vereint“, schreibt Ehrenberg und skizziert eine Soziologie des Individualismus. In beiden Ländern offenbaren die Sprachspiele „dieselbe Beunruhigung hinsichtlich der Auflösung gesellschaftlicher Bindungen, indem sie an die Werte der wechselseitigen gesellschaftlichen Abhängigkeit erinnern. Aber das eine bringt dies durch den Bezug zum moralischen Individualismus zum Ausdruck, während sich das andere auf die Solidarität der französischen Gesellschaft bezieht.“
In Frankreich, so Ehrenberg, ist der Staat dem eigenen Anspruch nach eine Solidargemeinschaft, innerhalb derer sich der Individualismus behaupten darf. In den USA dagegen ist der Individualismus antietatistisch und lässt nur lose staatliche Strukturen zu. In Frankreich wird Autonomie aufgefasst „als Unabhängigkeit, beurteilt nach dem Schutz durch den Staat, der die Solidarität der Gesellschaft jedem gegenüber verkörpert; in den Vereinigten Staaten als Unabhängigkeit, Wettbewerb und Kooperation, gemessen an einer individuellen Moral, die das Äquivalent zur gesellschaftlichen Ordnung ist.“ (Der Föderalismus der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik scheint ein Hybridmodell zu sein, das die verschiedenen Einzelgemeinschaften so zu schützen vermag, dass sie in sich gruppenkohärent bleiben und dennoch Autonomie und Individualität zulassen.)
Nicht nur in den beiden Ländern, die im Mittelpunkt dieser Beschreibung stehen, sondern in allen westlichen Ländern führen die voranschreitenden Individualisierungsprozesse und der gesellschaftliche Strukturzerfall zu einem Unbehagen in der Gesellschaft, das Ehrenberg ausdrücklich nicht als soziologische Pathologie verstanden wissen will. Dass das Unbehagen in der Gesellschaft ein unvermeidlicher Kollateralschaden einer Demokratie, die sich ernst nimmt, ist Ehrenbergs Fazit, dem es gut gelingt, in einer aufwendigen und redundanten Diktion sozialwissenschaftliches Allgemeinwissen neu zu gestalten.
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