Klassiker des Kinderbuchs und der Nonsens-Literatur

Eine Neuausgabe von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ mit Illustrationen von Jonathan Wolstenholme

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 4. Juli 1862 soll die Geburtsstunde des weltberühmten Kinderbuchs „Alice im Wunderland“ gewesen sein: Auf einer Bootsfahrt zum Picknick mit den drei Schwestern Lorina, Edith und Alice Liddell, den Töchtern des Dekans von Christ Church College in Oxford, wurde die Erzählung von dem kleinen Mädchen Alice erfunden, die wundersame Abenteuer in einer unterirdischen Welt der Tiere und Fabelwesen erlebt. Sie bildet im Grunde den Kern des 3. Kapitels von „Alice im Wunderland“, in dem Alice die Tiere im Tränenteich trifft, den sie selbst geweint hat, mit ihnen ans Ufer schwimmt und alle zusammen darüber beraten, wie man am schnellsten wieder trocken werden kann.

Aber es dauert doch noch einige Zeit, bis der Mathematik-Tutor am Christ Church College Charles Lutwidge Dodgson, der sich 1856 das Pseudonym Lewis Carroll zugelegt hatte, die Urschrift von „Alices Abenteuer im Untergrund“, wie die Erzählung zunächst hieß, fertig stellen konnte; und bis sie dann veröffentlicht wurde, vergingen abermals Jahre. Nachdem er seinen Verleger und den Illustrator John Tenniel durch seine ständigen Veränderungswünsche fast zur Verzweiflung getrieben hatte, kam das Buch 1865 heraus und wurde zu einem durchschlagenden Erfolg. Es gibt allein 36 deutsche Übersetzungen, und verfilmt wurden „Alices Abenteuer“ von 1903 bis 2010 fünfundzwanzig mal. Am bekanntesten die Disney-Verfilmung von 1951, die sich allerdings nur auf die idyllischen und niedlichen Aspekte der Geschichte bezog. Deren monströse und absurde Seiten haben im 20. Jahrhundert zunehmend die psychoanalytische Literaturkritik beschäftigt. Die Surrealisten (Max Ernst, René Magritte, Salvador Dali und andere) erblickten in Carrolls Schreibweise ein frei sich artikulierendes Unbewusst, aus dem heraus sie schufen. T. S. Eliot, Virginia Woolfe und James Joyce (letzterem „Finnegans Wake“, bezogen sich in ihren Werken auf diesen Sprach- und Denkspieler. Die „psychedelische“ Kultur der 1960er-Jahre interpretierte Alices Abenteuer als halluzinierte Drogenvision das Mädchen isst von einem Pilz, der sie größer und kleiner erscheinen lässt, aber auch ihren Bewusstseinszustand verändert. Grace Slick und „Jefferson Airplaine“ haben dann Carroll mit dem Lied vom „White Rabbit“ in die Pop-Kultur der 1960er-Jahre eingeführt. Das Lied interpretiert die Geschichte von Alice vor einem hypnotischen Bolero-Rhythmus „psychedelisch“. Arbeiten zeitgenössischer Künstler von Sigmar Polke bis Stephan Huber, Anna Gaskell, Kiki Smith und Pipilotti Rist zeigen, dass die Faszination an Alice bis heute ungebrochen ist.

„Wer um alles in der Welt bin ich? Das ist das große Rätsel!“ Diese ängstliche und zugleich wissbegierige Frage muss Alice bei ihrer Traumreise durch das „Wunderland“ beantworten. Es ist eine Reise in eine verkehrte Welt, in ein Land des Unsinns und der ständigen Verwandlung. Nichts ist so, wie es scheint, jede der skurrilen Figuren behauptet etwas anderes wenn nicht das Gegenteil, nimmt neue Eigenschaften an, oder mit jeder Episode die ganze Geschichte besteht sprachlich wie inhaltlich aus für einen Traum charakteristischen Assoziationsketten verwandelt sich die ganze Umwelt, so dass die einzelnen Figuren neue Orientierungen suchen müssen.

Auch Alice muss ständig ihre Identität wechseln, nimmt unterschiedliche Gestalt an, wird mal winzig klein, dann wieder riesengroß. Sie, die aus einer behüteten, man könnte auch sagen beaufsichtigten bürgerlichen Welt kommt, wird in dieser unterirdischen Welt mit ungeahnten Dimensionen konfrontiert, die sie überfordern. Sie wird Prüfungen unterzogen, bei denen ihr das erworbene Schulwissen überhaupt nicht helfen kann, sie muss sich allein behaupten, wo doch bisher immer jemand da war, der sie an die Hand genommen hatte. Angst vor dem Versagen, Unterlegenheitsgefühle, Entgrenzungsbedürfnisse, Rollenspiele paaren sich bei ihr mit dem Willen zur Selbsterprobung und Selbstbehauptung, mit Neugier und Entdeckerlust, diese fantastische Welt zu erkunden. Ihre paradox verlaufenden Begegnungen mit den Figuren und Spielkartenmenschen rücken die Sprache und die Wörter in den Mittelpunkt des Buches.

Was ist das – eine Nonsense-Geschichte für Kinder, ein sprachphilosophisches Verwirrspiel oder die Verarbeitung von Dodgsons/Carrolls eigener gestalteter Realität? Da satirisch und parodistisch die Unsinnigkeit der viktorianischen Realität beschrieben wird, kann man das Buch auch mit Thomas Kleinspehn als Kritik an einer Gesellschaft lesen, welche die Form, die äußeren Normen und Konventionen betont und die kalte Rationalität vor das mitmenschliche Empfinden setzt. Für die Linguistik und Semiotik ist die Geschichte mit ihren abgründig kühnen Umkehrungen der Logik, parodistisch beziehungsreichen Sprachspielen und logisch-semantischen Paradoxien eine wahre Fundgrube. Gerade ihre Vieldimensionalität macht den Reiz und die Wirkung des Buches aus – man kann es als Kinderbuch lesen oder als dessen Parodie (die didaktische Tendenz der viktorianischen Kinderliteratur wird geradezu lächerlich gemacht), es als assoziativen Traum nehmen, der die Normalitätskonzepte unserer Welt außer Kraft setzt, oder als kunstvolle sprachphilosophische Konstruktion, als Nonsense-Literatur betrachten, die nicht so sehr auf Witz oder Humor, sondern auf Absurdidät beruht.

„Wer seid ihr denn? Ihr seid doch bloß ein Kartenspiel!“ ruft Alice am Ende der Erzählung wütend den Traumgeschöpfen zu und wacht im Schoß ihrer älteren Schwester auf – sie ist in die Wirklichkeit ihrer Familie zurückgekehrt. Aber nun ist es die Schwester, die selbst den Traum träumt, „obwohl sie wusste, dass alles wieder alltägliche Wirklichkeit würde, sobald sie die Augen öffnete“. So zieht der Text eine klare Trennlinie zwischen der als Realität erkannten Welt unserer Denkmuster und der Traumwelt.

In der jetzt im Haffmans Verlag bei Zweitausendeins erschienenen Neuausgabe wird nicht auf die für Deutschland gängige Übersetzung von Christian Enzensberger von 1963 zurückgegriffen, sondern auf die erste deutsche Übertragung von Antonie Zimmermann aus dem Jahre 1869, die Gerd Haffmans feinfühlig bearbeitet und dem heutigen Sprachverständnis angepasst hat. Erstmals ist das Buch mit Bildern von Jonathan Wolstenholme ausgestattet worden, die jung und alt zugänglich sein dürften: doppelseitige Farbtafeln wie einzelne Gestalten und Motive, die am Anfang oder am Ende eines Kapitels oder direkt in die Textblöcke eingesetzt wurden. Der Illustrator sieht hier Geschichten mit einer glücklichen Mischung aus Realismus und Fantasie – das beunruhigende, gefährliche Element bleibt weitgehend ausgespart –, mit sehr viel Humor und Lebensklugheit, die man ernst nehmen soll, aber auch nicht zu ernst nehmen darf. So stellt er die Figuren ohne jedes Pathos und höchst eindrucksvoll – halb Tier, halb Mensch – hin, entschärft wesentlich die Gruseligkeiten, malt die heiteren Seiten dieser ebenso handlungs- wie dialogreichen Geschichten noch ein wenig heiterer, verschmitzt und spaßig-ironisch aus. Bei all dem bleibt doch zwischen Text und Bild noch so viel Raum, wie ihn Mitdenken und Fantasie brauchen, um zum schöpferischen Genuss der Geschichten zu gelangen.

Eine wunderschöne Ausgabe, wirklich, bei der man sich allerdings gewünscht hätte, dass sie auch die Fortsetzungsgeschichte „Alice hinter den Spiegeln“ enthalten würde, die die Identitätsfindung Alices in einem geträumten Schachspiel vorführt, in dem sie zu einer abhängigen Schachfigur zu werden droht, am Ende des Spiels aber die Herrschaft über sich und die Figuren zurückgewinnt.

Titelbild

Lewis Carroll: Alices Abenteuer im Wunderland.
Mit Bildern von Jonathan Wolstenholme.
Nach der ersten deutschen Übersetzung von Antonie Zimmermann getreu und behutsam erneuert von Gerd Haffmans.
Zweitausendeins, Leipzig 2012.
176 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783861503910

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