Erweckungserlebnisse

Burkhard Spinnen in Briefen, Essays und Reden

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich erwarte allein schon von der Vibrations-Massage eine Erhöhung und Erlösung des Menschengeschlechts." Als Peter Altenberg 1906 seinen Prosaband "Pròdromos" (griech. für Vorläufer) veröffentlichte, mit lauter einprägsamen Texten zur Lebensreform und Diätetik, mit der Sprache der Werbung und des Marktes, da waren seine Leser ratlos. "Peter Altenberg scheint als Dichter und Künstler für uns verloren", schrieb ein Kritiker, und noch vor kurzem wurden Altenbergs Texte als Zeichen eines Verfalls und einer Krise gelesen. Es ist nun tröstlich zu sehen, dass alle große Kunst eines Tages eine Deutung und Lesart erfährt, die ihre Verdienste zu würdigen weiß. Wenn dies so einleuchtend und unangestrengt gelingt wie bei Burkhard Spinnen, so ist es eine Lust, ihm zu folgen und mit ihm die Welt neu zu entdecken.

Seine Ausgangshypothese ist einfach: Wie, wenn Altenbergs "Werbetexte" nicht als Zeichen des Verfalls, sondern als Signal innovativer Aneignung zu lesen wären? Als Versuch, das neue, durch Warenwelt und Werbung aufgekommene Sprachmaterial "als Bestandteil der natürlichen, der gewachsenen Sprache" ernst zu nehmen und für die Dichtung zu erschließen? Eine schöne These, die umso schöner am Beispiel des Abführmittels "Tamar Indien Grillon, Paris" illustriert wird, die der Sohn dem Vater zum 70. Geburtstag schenkt, bei Eintritt ins Greisenalter also: "Ich bringe deinem Greisenalter die Jugendlichkeit! Jeden Morgen vor dem Frühstück eine Pastille!" Burkhard Spinnen gelingt es, den Text schlüssig als Palimpsest und Kontrafaktur einer Idylle von Johann Heinrich Voß zu lesen, als Versuch, mittels der Sprache der Werbung das Gerede von den Lebensaltern zu entzaubern.

Offenbar ohne den Vorwurf der Schleichwerbung zu fürchten, holte Peter Altenberg die Sprache der Werbung in die Literatur und nahm dabei permanent Geschmacksverstöße in Kauf. Was geht uns das heute noch an? Zurecht weist Burkhard Spinnen darauf hin, dass sich "Pròdromos" als Vorläufer unserer Gegenwartsliteratur lesen lässt, die sich diese Form des Name-Droppings mehr und mehr zunutze macht.

Lesen mit Burkhard Spinnen ist ein anspruchsvolles und zugleich unterhaltsames Programm. Seine Essays sind niemals anstrengend und immer lehrreich; sie tendieren zur Erzählung, getreu der Devise Friedrich Schlegels, dass die Produktion neuer Literatur eine "natürliche Anschlusshandlung" an die interpretierende Lektüre sein müsse. Die persönlichen Vorlieben gelten dabei Autoren wie Nicholson Baker, Eckhard Henscheid, Arno Schmidt, Arthur Schnitzler oder Kurt Tucholsky. Burkhard Spinnen findet für seine Essays immer den persönlichen Ansatz: die Begegnung mit einem Karl Kraus-Leser oder die Wiederbegegnung mit einem Kinderbuch. Andere Erfahrungen ergeben sich aus der Profession, aus den Mitmach-Angeboten des Literaturbetriebs, etwa bei Thomas Hettches Internet-Anthologie "null" oder bei einem Satireband des Sanssouci-Verlages. In seinem Ablehnungsschreiben an Sanssouci entwirft Spinnen einen depressiven Handwerker, einen Küchenbauer, als "satirischen Musterfall". Er führt seine Geschichte nicht aus, sondern legt nur die Grundlinien der Fabel fest, und dieses Verfahren, Entwürfe von Geschichten anzubieten wie ein Stück Speck, variiert er in mehreren Texten. Für manch einen Leser könnten sie zu einem Erweckungserlebnis führen und den Impuls zu einer neuen Autorschaft geben.

In einer Nachbemerkung schreibt Spinnen, einige seiner Essays hätten ursprünglich ein "akademisches Habit" getragen. Doch wohl nur in der Weise, in der man früher Preisfragen beantwortete, so wie Kant die Frage "Was ist Aufklärung?" Hier ist jedenfalls nichts Störendes geblieben, die Ausbeute aus sechs Jahren ist reich und lehrreich.

Titelbild

Burkhard Spinnen: Bewegliche Feiertage. Essays und Reden.
Schöffling Verlag, Frankfurt 2000.
390 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3895610356

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