Un animal fantastique

La Peyrère, der Erfinder der ,Präadamiten‘ – das Werk eines bekannten Unbekannten wird neu gesichtet

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Adam und die Seinen, die Adamiten, wirklich die ersten Menschen waren: Woher hatten Adam, Eva und ihre beiden Söhne Kleider und Geräte? Wozu hütete Abel überhaupt seine Schafe, wenn es keine Diebe gab, die er fürchten musste? Warum erschlug Kain seinen Bruder an einem einsamen Ort, wie es in älteren Übersetzungen heißt, wenn es nicht auch bewohnte Orte gegeben hat? Wozu erhielt er von Gott zu seinem Schutz das ,Kainszeichen‘ auf seiner Stirn, wenn es niemanden gab, der ihm hätte begegnen oder ihn gar hätte erschlagen können? Woher nahm er sein Weib, die Mutter Henochs, da Adam und Eva doch keine Töchter hatten, von dem andernfalls drohenden Inzest gar nicht zu reden?

Vor der Entwicklung und Durchsetzung der Quellenkritik des „Alten Testaments“, vor allem des Pentateuch (der Fünf Bücher des Moses), waren Ungereimtheiten dieser Art allein in den ersten vier Kapiteln des Buches „Genesis“ schon länger bekannt und haben (bis heute) allerlei Glaubenszweiflern wie etwa auch den zeitgenössischen libertins unter den Pariser Freunden La Peyrères (1596-1676) Anlass zu Fragen wie auch zu allerlei Sottisen geboten, und Noël Journet, ein hugenottischer Schullehrer im lothringischen Metz, war im Juni 1582 zusammen mit seinen Schriften verbrannt worden, auch wegen seiner Kritik an solchen Geschichten und weil er empfohlen hatte, die Bibel überhaupt für ein Buch voller Lügen zu halten.[1] Hinzu kamen die Informationen über die Annahmen der Chaldäer, der Ägypter, der Griechen (Platon im „Timaios“) und der Chinesen über das Alter der Welt und der Menschheit, die die biblizistische Chronologie um vier und mehr Jahrtausende überstiegen. Sie waren immer mehr Menschen bekannt geworden (zuletzt durch katholische Missionare in China) und ließen sich auf die Dauer nicht mit dem Hinweis auf die Lügen der „dummen“ Heiden abtun, die auf die Erleuchtung durch die göttliche Offenbarung verzichten mussten.[2] Einen anderen, noch aktuelleren Brennpunkt bildete die Existenz der neu ,entdeckten‘ Völker in der Neuen Welt, denen schließlich, auf Drängen von Las Casas, auch der Papst (Paul III., 1537) den Status als Menschen nicht verweigerte und von denen man sich immer weniger vorstellen konnte, dass sie von Nachkommen der drei Söhne des Noah: Sem, Ham oder Japhet, abstammten und etwa über den Ozean nach Amerika gelangt waren. Der Problemdruck aus diesen und anderen Fragen, der sich im 16. Jahrhundert angestaut hatte, löste sich zwanglos auf, sobald man sich entschloss, eine Menschheit vor Adam anzunehmen, die in einer ersten, vorausliegenden Schöpfungsaktion längst vor diesem geschaffen worden war und verschiedene Länder und Kontinente, in Asien wie in Amerika und dem später entdeckten Australien, bevölkerte. Aus Adam, in der Bibel Synonym für Mensch, wird dann der Stammvater der Juden, das Alte Testament wird zum Geschichtsbuch des auserwählten Volkes und die Sintflut zu einer regionalen Überflutungskatastrophe – die biblische Geschichte und die säkulare Universalgeschichte fallen auseinander, wie damit etwa auch die philosemitische Sprachursprungstheorie vom Hebräischen als der ältesten Sprache der Menschheit erneut in Frage gestellt wurde.[3] Die These von den zwei Schöpfungen gerade auch des Menschen hatte schon immer nahegelegen, wenn man Gen 1,27 („Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“) mit Gen 2,7 verglich („Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem“, zitiert nach der Einheitsübersetzung). Es versteht sich, dass derlei Fragen heute durch den sogenannten „Kreationismus“, der als eine der neueren ,Kulturleistungen‘ US-Amerikas von sich reden macht, auch außerhalb der ernstzunehmenden religionsgeschichtlichen Forschung eine neue Aktualität gewonnen haben.

La Peyrère konnte sich auch auf die griechische Septuaginta berufen, die die Stelle in Kapitel 1,27 mit „Mensch“, in Kapitel 2,7 aber „den Menschen aus Erde“ mit „Adam“ übersetzt. In seinen „Prae-Adamitae“ (Amsterdam 1655) argumentiert er aber ohnehin vom Ansatz her neutestamentlich, vor allem mit dem Römerbrief 5, 12-14 des Paulus, und kommt so zu einer neuen Gliederung der Heilsgeschichte: einer Periode sub natura, das heißt ante legem, eben der Zeit der Präadamiten vor dem Sündenfall, folgt von Adam und Eva bis Christus die „postlapsale“ Zeit der Menschheit sub lege, während das Gesetz des Moses eben nur den Juden gegeben wurde; den Stadien sub natura und sub lege schließt sich dann unter neutestamentlich-christlichen Vorzeichen die Epoche sub gratia an. La Peyrère kennt aber noch ein viertes Stadium: sub gloria, das in aeternum andauert, nachdem Christus in spiritu wiedergekommen sein wird, als der zweite Adam, und hier, in den Bedingungen einer künftigen Vollendung des göttlichen Heilsplans und nicht eigentlich in der Öffnung der Geschichte nach rückwärts liegt sein Hauptinteresse. Es ist die Vision von einer Aufhebung der Differenz zwischen Heiden beziehungsweise „Völkern“ (gentiles, Präadamiten und ihre Nachkommen), Christen und Juden und der Rettung der gesamten Menschheit, für die eine „Rekonziliation von Judentum und Christentum“ der entscheidende und unmittelbar bevorstehende Schritt sein müsse. Darüber handelt das früheste seiner Bücher, „Du Rappel des Juifs“ aus dem Jahre 1643, wie auch ein größeres Manuskript im Nachlass, verfasst in einem Konvent der Oratorianer bei Paris, in dem er bis zu seinem Tod 1676 lebte, nach Gefängnis der Inquisition in den Spanischen Niederlanden, Widerruf und Konversion in Rom vor dem Papst persönlich. Der Hugenotte La Peyrère, wie viele Calvinisten und ihre Unterstützer von Haus aus Jurist, wird zu den zahlreichen Philosemiten des 17. Jahrhunderts gezählt, er soll dem gerade um die Jahrhundertmitte sehr akuten jüdisch-christlichen Messianismus und Chiliasmus ebenso nahestehen wie den Pariser libertins érudits, La Mothe Le Vayer etwa, Gabriel Naudé oder Guy Patin, sowie den radikalen Protestanten, die sich im Zeitalter des Konfessionalismus in Distanz zu den Konfessionen bewegen und von vielen als Atheisten betrachtet werden.

Dieses Bild wurde jedenfalls von der Forschung seit Leo Strauss, Hans-Joachim Schoeps und bis heute besonders maßgeblich durch den Philosophiehistoriker Richard H. Popkin gezeichnet (von ihm stammt die erste und einzige Monografie von 1987), der La Peyrère als kryptojüdischem, zwangsgetauften Marranen sehen wollte, während man in Frankreich gerne die Nähe zu den libertins érudits (nach Pintard) betont hat. Bildete er für die alten Theologen mit Spinoza und Hobbes die Dreifaltigkeit der Erzhäretiker in der frühen Neuzeit, so wurde er im 20. Jahrhundert zu einem schwer einzuordnenden Pionier der modernen Kritik, und es „schien ihn nur die Angst vor der letzten Konsequenz von einem Darwin zu unterscheiden“, wie Andreas Pietsch meint, der in seinem Buch, das auf eine Münsteraner Dissertation zurückgeht, diesen Autor und seinen historischen Ort in zentralen Punkten neu bestimmen und bewerten will.

Dabei ist der Versuch der Revision eines Forschungsstandes von klassischem Zuschnitt entstanden: In sechs konzisen Kapiteln werden die Materialgrundlagen und Deutungsmuster der bisherigen Forschung beschrieben, zum einen heterodoxe Bibelkritik, Kritik der biblizistischen Weltchronologie und der Menschheitsgeschichte (Polygenese statt adamitischer Monogenese), zum anderen der libertin und messianische Philosemit, dessen theologischen Standort niemand eindeutig feststellen konnte; es werden bisher vernachlässigte oder unterschätzte Aspekte und Schriften neu gewichtet und untersucht: die erste Schrift „Du Rappel des Juifs“ an erster Stelle, die weiterhin Grundlage geblieben sei, die Zugehörigkeit des Autors zur „République des lettres“ und deren Verkehrsformen und Kommunikationsmedien, vor allem aber die beständige Patronage (seit 1640) durch die eng mit dem katholischen Königshaus verwandten bourbonischen Prinzen Condé und deren Spuren und Folgen bis in konfessionspolitische und theologische Orientierungen (und deren Wechsel) hinein, bis hin zu übersehenen theologischen Verwandtschaften und Parallelen. Dafür werden Forschungsfelder neu berücksichtigt, viele neue Quellen werden herangezogen (unter anderem aus dem Vatikanischen Geheimarchiv), andere werden besser ausgewertet. Dem Verfasser ist hier mit großer Umsicht mancher Fund gelungen, und sein Buch liest sich immer wieder spannend und farbig, auch wenn der Druck relativ viele Verschreibungen (häufig fehlende Buchstaben), etwas überhastet anmutende Formulierungen und andere Ausdrucksmängel sowie Fehler in der Dokumentation aufweist, die man von Bänden aus der Reihe „Frühe Neuzeit“ des (leider ehemaligen) Niemeyer-Verlags eigentlich nicht gewohnt ist.

Zur Revision eines Forschungsstandes gehört am Ende vor allem die These über eine „Neuverortung“ des Gegenstandes (wie das in fragwürdigem Deutsch gewöhnlich heißt), aus der dann auch eine Diagnose über die alte Deutung resultiert, die hier besonders interessant ist: Die bisherige Rezeption und dann auch die davon abhängige Forschung, lesen wir am Ende des VI. Kapitels, habe „die tieferliegenden theologischen Schwierigkeiten“, die La Peyrères Denken zeige und die andere mit ihm hatten, aus guten Gründen nicht benannt und dafür „die Auseinandersetzung auf der Oberfläche“ geführt. „Diese Oberfläche bestand aus Präadamiten und anderen biblischen Spielereien, die viel leichter zu parieren waren als etwa La Peyrères Christologie oder seine Erlösungslehre. La Peyrère wusste für seinen „Rappel des Juifs“ den Eifer zur Bekehrung der Juden als quasi ,kleinsten gemeinsamen Nenner‘ der konfessionellen Polemik im 17. Jahrhundert gut zu instrumentalisieren.“ Wenn man von der hermeneutischen Problematik einmal absieht, leistet dieses Zwei-Ebenen-Argument ein Doppeltes: Der Verfasser kann seine neue These über den Ort La Peyrères als Einsicht in eine verdeckte und erst von ihm dechiffrierte Tiefenstruktur deklarieren, und er kann zugleich bisherige Deutungen als eine geradezu in der Natur des historischen Gegenstands selbst liegendes unzureichendes, weil notwendig an die „Oberfläche“ gebundenes Teil- oder Missverständnis interpretieren. Pietschs neue These lautet dann: La Peyrère ist ein „christlicher Spiritualist“ „aus dem Erbe der radikalen Reformation“, einer der libertins spirituelz im Sinne der Polemik Calvins[4] (von Luther „Schwärmer“ genannt, und natürlich scharf abzugrenzen gegen die libertins érudits); trotz seltsam problemloser Konversion in Rom eher ein Protestant, in seiner spiritualistischen Exegese mit einer „übersteigerten Calvinrezeption“, als solcher aber konfessionell eher indifferent beziehungsweise transkonfessionell, wie andere Heterodoxe der Frühen Neuzeit vertraut mit Dissimulation und Nikodemismus; die Libertinismus- wie die Marranen-These seien (wiederum erklärbare) Sackgassen der Deutung, und seinen Anteil an der Konstituierung des modernen Bewusstseins werde man „entsprechend geringer ansetzen müssen.“

Es gehört zu den merkwürdigen Zügen dieser Studie, dass man fast 250 Seiten lang im unklaren über diese Deutungsalternativen gelassen wird, ehe der Verfasser erst im Laufe des sechsten Kapitels relativ unvermittelt mit seinen Thesen herausrückt und beim Leser so etwas wie die Lösung einer Spannung, eine Erleichterung erzeugt, auf die er lange warten muss, nachdem ihm die sehr knappen Bemerkungen in der Einleitung im Durchgang durch die vielen Abschnitte, die ihn gelegentlich auch etwas ratlos machten, längst aus dem Blick geraten sind. Immer wieder möchte man beim Lesen die Frage stellen: „… und was heißt das nun alles für die in Aussicht gestellte Neuinterpretation?“ Natürlich ist damit gesagt, dass dieses hochinformative Buch Schwächen im systematischen Aufbau besitzt und es oft an gezielter Argumentation fehlen lässt, wie auch die am Ende relativ kurz gefasste Darstellung der neuen Deutungen auf nicht viel mehr als 25 Seiten (in Kap. VI u. VII: Fazit) notwendig Begründungsdefizite übrig lässt beziehungsweise den dringenden Wunsch, der Verfasser möge Gelegenheit haben, seine Thesen und Urteile in weiteren Studien ausführlicher zu begründen und zu belegen.

Dennoch: Man wird über La Peyrère ab heute anders reden und schreiben müssen als vor diesem Buch – über andere seiner Schriften und nicht immer nur über die „Prae-Adamitae“, und hoffentlich auch mehr als bisher über die Biografie dieses „etwas bizarren Charakters“ (Bischof Andreas Räß, 1868) und die Machtbeziehungen um die Mitte des 17. Jahrhunderts in Frankreich und Westeuropa, in denen er sich während eines turbulenten Lebens bewegte.

[1] Vgl. ausführlich Alain Mothu: Deux „jeunes éventés“: Geoffroy Vallée et Noël Journet. Spiritualisme et athéisme au XVIe siècle. Ersch. Sept. 2009 in den von Jean-Pierre Cavaillé (Paris, CNRS) hrsg. Dossiers du GRIHL (= Groupe de Recherches Interdisciplinaires sur l’Histoire du Littéraire), einer Plattform mit Bibliografien, Essays und Debatten zur Erforschung der Frühen Neuzeit von inzwischen unschätzbarem Wert [http://dossiersgrihl.revues.org/2083]. Von Journets Schriften ist nichts erhalten, wohl aber die penible Réfutation des erreurs éstranges et blasphèmes horribles des rechtgläubigen Pastors Jean Chassanion, von der in den 70er-Jahren des 20. Jhs. zwei Ex. wieder aufgefunden wurden. Dazu in François Berriot: Spiritualités, hétérodoxies et imaginaires. Saint-Étienne 1994, S. 303-314.

[2] So noch bei dem katholischen Chronologen Paul Pezron: L’Antiquité des tems. Rétablie et defendue contre les Juifs & les Nouveaux Chronologistes. Paris, Amsterdam 1687, der zwar innerkatholisch umstritten war, aber aus anderen Gründen.

[3] So z. B. die empörte Reaktion des Hebraisten Johann Eberhard Busmann: De genio linguae hebraeae. Helmstedt 1674, A3r.

[4] Jean Calvin: Contre la secte phantastique et furieuse des libertins qui se nomment spirituelz (1545). In: Opera omnia, Abt. IV, Bd. 1. Genève 2005, S. 43-195.

Titelbild

Andreas Nikolaus Pietsch: Isaac La Peyrère. Bibelkritik, Philosemitismus und Patronage in der Gelehrtenrepublik des 17. Jahrhunderts.
De Gruyter, Berlin 2012.
302 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783110261394

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