Die letzten Dinge

Das Buch zu Michael Hanekes Film „Liebe“

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im barocken Trauerspiel – so Walter Benjamin – steht die Geschichte im Zeichen von Verfall und Tod, weil „am tiefsten der Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung eingräbt“. „Liebe“, der neue Film von Michael Haneke, in Cannes 2012 mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, Kandidat für einen Oscar und von der Kritik allseits gelobt (von „leisem Furor“, „zärtlicher Monstrosität“, „nüchterner Empfindsamkeit“ ist die Rede), erzählt zunächst eine Geschichte von Verfall und Tod: ein über achtzigjähriges Ehepaar, die Frau ein schwerer Pflegefall, der Mann am Ende ihr einziger Pfleger und Sterbehelfer. Im Film wird die Demarkationslinie indessen bei näherer Betrachtung beidseits überschritten. Der hinfällige und leidende Körper bekommt durch die eindringlichen Bilder, die der Sentimentalität ebenso geschickt ausweichen wie dem, was der Regisseur „Miserabilismus“ nennt (gemeint ist das Schwelgen in Details physischen Leidens), eine tiefere Bedeutung. Und die Bedeutung entsteht in Hanekes Film eigentlich nicht im Kontrast, sondern im unaufdringlichen und vielleicht auch unheimlichen Bündnis mit dem gezeigten Körper. Diese Korrespondenz zwischen visueller Bedeutung und Körpersprache erzeugt eine andere Geschichte: die der Liebe.

Michael Hanekes Buch „Liebe“ ist nicht mit dem Drehbuch identisch, aus dem einige Faksimiles abgedruckt sind, die das detaillierte Arbeiten Hanekes am Bildaufbau und an der Blickregie belegen. Der Leser erhält eine mit einigen Filmstills unterlegte Text-Folge der 61 Bilder, die den Ablauf der Handlung, die Dialoge, szenische Hinweise und die Regieanweisungen wiedergibt.

Anna und Georg (gespielt von Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant) besuchen ein Konzert im Théâtre du Champs-Élysées, fahren glücklich mit dem Bus nach Hause, bemerken einen Einbruchsversuch in ihre gutbürgerliche Wohnung und gehen nach einem gleichwohl gelassenen Gespräch zu Bett. Am nächsten Morgen erleidet Anna beim Frühstück einen kataleptischen Anfall, sie kommt ins Krankenhaus, die Operation missglückt, sie wird zum Pflegefall. Der Großteil der Bilder schildert ihre zunehmend hilflose Lage und Georgs fürsorgliche, im doppelten Sinne eigenmächtige Betreuung. Eine Pflegehilfe wird entlassen, der Tochter wird einmal der Zutritt zum Schlafzimmer der Mutter verwehrt. Georg nimmt allem Anschein nach – nonverbale – Sterbewunsch-Signale von Anna wahr und erstickt sie schließlich mit dem Kopfkissen – eine Szene, die an Jean-Jacques Beineix’ Film „Betty Blue“ aus dem Jahr 1986 erinnert, aber hier gänzlich andere Voraussetzungen hat.

Den Film zu kommentieren, muss einer Rezension vorbehalten bleiben. Das Buch bietet aber eine vorzügliche Gelegenheit, sich mit der Komposition dieses Innenraumdramas zu befassen (die Handlung spielt ab dem 6. Bild nur noch in der geräumigen Wohnung) und die Regie der Symbole zu untersuchen (die Taube im Flur, die Off Screen-Musik). Die Lektüre des Buchs ersetzt nicht das Sehen des Films, sie kann aber das Verständnis des Films vertiefen. Dazu dient auch das verständige Nachwort von Georg Seeßlen über Spuren der Liebe in Hanekes Filmen. Seeßlen vergleicht Hanekes Filme mit Friedrich Schillers Ästhetik und spricht von der Filmschaubühne als moralischer Anstalt und Wahrnehmungsschule. Das wird durchaus plausibel gemacht. Freilich: Ist Hanekes „Liebe“ wirklich das „letzte bürgerliche Trauerspiel“? Diskutabel wäre eben auch das Gegenteil: Die Gesichter, die Gesten der Akteure im Film sprechen von einem Drama der Liebe, die nicht trotz, sondern wegen Alter und Todesverfallenheit möglich ist. In Benjamins Sinne wäre so nicht die Allegorie, sondern das Symbol der bessere Schlüssel zu Hanekes „Liebe“.

Titelbild

Michael Haneke: Liebe. Das Buch.
Mit einem Essay von Georg Seeßlen.
Carl Hanser Verlag, Berlin 2012.
206 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446240278

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