Die traurige Wirklichkeit des Wahnsinns

Rainald Goetz' erster Roman „Irre“

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die folgende Rezension wurde zuerst am 1. Oktober 1983 in der Buchmessenbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Der 29 Jahre danach erschienene Roman „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz ist ein Anlass, an das literarische Debüt des Autors zu erinnern.

Die Ankündigung eines neuen Psychiatrie-Romans und eines autobiographischen noch dazu, das läßt Schlimmes befürchten. Seit Heinar Kipphardts Roman über den schizophrenen Dichter Alexander März vergeht keine literarische Saison, die nicht etliche psychopathologische Fallbeschreibungen hervorbringt. Und die meisten davon lassen sich der seither so genannten Selbsterfahrungsliteratur zuordnen, die sich ihrerseits seit Jahren wahrhaft inflationär vermehrt.

Wer heute ein Buch publiziert, das offensichtlich ganz in den Rahmen dieser nicht mehr allerjüngsten Tradition hineinpaßt, muß schon mit besonderen Qualitäten aufwarten, soll ihn nicht der Vorwurf treffen, Mitläufer oder gar Nachzügler eines weithin zur Mode verkommenen Interesses zu sein und nur ein weiteres Mal zu reproduzieren, was viele andere schon ähnlich erlebt und gesagt haben.

Doch soviel vorweg: Der Roman „Irre“ des jungen Münchener Autors Rainald Goetz lohnt Lektüre und Auseinandersetzung. Und zwar nicht nur, weil er die von Intellektuellen meist sehr theoretisch und realitätsfern geführte Psychiatriediskussion mit ungewohnt wirklichkeitsnahen Beobachtungen bereichert, sondern weil er darüber hinaus den Leser mit einem Vorzug für sich einnehmen kann, der dem eintönigen Kitsch der zu Papier gebrachten Selbstdarstellungen abgeht: mit literarischem Talent.

Rainald Goetz, neunundzwanzig Jahre alt, promovierter Historiker und Mediziner, fiel schon als Student öffentlich auf durch Erfahrungsberichte und kulturkritische Essays in renommierten Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen. Im Juni dieses Jahres brachte er sich während des Klagenfurter Wettbewerbs um den Ingeborg Bachmann Preis durch einen spektakulären Akt der Selbstverletzung nachhaltig ins Gerede. Jetzt also sein erster Roman.

Mit einem solchen Leiden an der eigenen Intellektualität und dem Wunsch nach authentischer Lebendigkeit, so voller Angst und Sehnsucht, Verzweiflung und Wut hat ein umstrittener und berühmter Schriftsteller unseres Jahrhunderts auch begonnen, seine medizinischen Erfahrungen literarisch zu verarbeiten. Sein Name wird in dem Roman nicht genannt, doch ihm steht der Autor näher als allen, denen er ausdrücklich seinen Respekt bekundet: Gottfried Benn, dem Arzt und Dichter, der 1912 die literarische Öffentlichkeit mit dem Gedichtzyklus „Morgue“, zu deutsch „Leichenschauhaus“, so schockierte, daß mancher ihn als Fall für den Psychiater abstempeln wollte. Mit dem Arzt namens Rönne schuf er eine literarische Figur, in dessen existentieller Bedrängnis er sich kaum verhüllt selbst darstellte.

Der Held des Romans von Goetz heißt Raspe. Und wie sein Autor steht er am Beginn einer medizinischen Laufbahn. Zwar hat auch Raspe wie Benns Rönne während des Studiums immer wieder menschliche Schädel geöffnet und Gehirne freigelegt, doch was er in der Klinik zu sezieren lernt, ist etwas anderes, wenn auch nicht weniger Befremdendes: die menschliche Seele.

Raspe arbeitet als Psychiater, einer der besten will er werden, von einer wissenschaftlichen Blitzkarriere träumt er, und er hat zugleich das geradezu messianische Bedürfnis, den Kranken zu helfen, sie von ihren Leiden zu erlösen. Man weiß nicht, was größer ist, der berufliche Ehrgeiz oder der Idealismus. Doch mit beidem scheitert er. Die zunächst vielversprechende Karriere des jungen Arztes endet mit dem Zusammenbruch. Der andauernden Konfrontation mit dem psychischen Leid ist Raspe nicht gewachsen.

Doch damit ist der Roman noch nicht an seinem Ende. „Neu anfangen … Ich hätte so gerne ein Leben.“ Damit beginnt der dritte und letzte Teil. Nach der „Irrenhaus‑Hölle“ der Ausbruch und der Aufbruch in die Freiheit einer verrückten, anarchischen Lebendigkeit. Raspe, der literarische Anarchist mit Gewaltphantasien, der Punker, der nachts seinen Schmerz im Bier ertränkt, der mal irrwitzige, mal verbissen ernste Provokateur, der um sein Leben schreibende Verächter gehobener Kultur ‑ ob dieser neue Identitätsentwurf auf die Dauer der glücklichere ist, bleibt offen. Die letzten Sätze des Buches stellen Fragen, eher skeptisch als hoffnungsfroh.

Diese Offenheit, die sich von unterschiedlichsten Lebens-, Denk- und Sprechweisen angezogen oder abgestoßen fühlt, sich aber auf keine Freund- oder Feindschaften völlig festlegen lassen will, ist für das ganze Buch charakteristisch. In ihr zeigt sich der Autor auch gefährdet gegenüber fragwürdigen, wenn nicht gefährlichen Auswegen aus der Krise, doch schöpft er aus ihr zugleich seine produktiven Möglichkeiten.

Oft scheint es, als wollte Goetz mit dem Debüt unbedingt die Vielfältigkeit seiner literarischen Kunstfertigkeiten demonstrieren. Jeder Romanteil folgt ganz eigenen Darstellungsprinzipien. Und auch innerhalb der Teile wechseln die Erzählformen und Stilmittel ständig. Der Autor kann in der Tat einiges, auch wenn ihm nicht alles gleich gut gelingt. Da stehen, besonders im letzten Teil, neben geschwätzigen Blödeleien mit verkrampfter Originalität witzige Einfälle; doch den bewußt unausgewogenen Wutausbrüchen und Hetztiraden gegen das peinliche Pack der Kulturverteidiger ist er sprachlich genauso gewachsen wie differenziert abwägender Argumentation; poetisch weiche Passagen gelingen ihm mitunter ebenso eindrucksvoll wie die realistischen Schilderungen abstoßenden Schreckens.

Goetz ist ein oft glänzender Stimmenimitator. Den akademischen Ton professoraler Vorträge oder den effektbedachten, eingeübten Sprachgestus in Fernsehdiskussionen trifft er genau. Und wie er etwa die Assoziationsströme im Rausch oder Wahn vermittelt oder auch den Rechen- und Zählzwang eines Patienten, das läßt an Anschaulichkeit nichts zu wünschen übrig. Vor allem im Jargon der Jugendlichen jedoch scheint er sich frei zu fühlen. In der distanzlosen Identifikation mit ihm bleibt er freilich oft ermüdend lange unter seinem Niveau.

Was vermag der Roman mit all diesen Fertigkeiten zu leisten? In der Auseinandersetzung mit seinem Hauptthema, der Psychiatrie, ist er zweifellos eine Bereicherung. Ähnlich wie schon Susan Sontag mit ihrer Schrift „Krankheit als Metapher“ setzt Goetz den verbreiteten Metaphorisierungen des Wahnsinnes hartnäckig die klinische Realität entgegen.

Psychische Krankheiten verdanken ihre gegenwärtige Attraktivität für literarische und kulturkritische Diskurse nicht zuletzt ihrer vielfältigen Verwertbarkeit als Metaphern Der Wahnsinn als Beispiel für normabweichendes Verhalten, das auf gesellschaftlichen Widerstand stößt; der Schizophrene als Revolteur gegen soziale Zwangsmechanismen, als Dissident, als kompromißloser Aussteiger aus der verhaßten Ordnung bürgerlicher Moral und Vernunft; der Verrückte als Verkörperung kreativer Phantasie und unverstellter Spontanität oder auch als Opfer und Märtyrer einer kranken Gesellschaft; die Anstalt als anschauliches Sozialmodell, mit den Ärzten als Sanktionsgewalten und der Pillenkeule oder dem Elektroschock als Disziplinierungsinstrument ‑ ähnlich konnten wir es in den letzten Jahren immer wieder lesen.

Man hat sich auf Nietzsches Genie und Wahnsinn berufen, so sagt es einer in dem Roman, oder auf Alfred Döblins Diktum, er könne nur zwei Kategorien von Menschen ertragen: Kinder und Irre. „Man hat sich mit den Sätzen von Laing-Cooper-Basaglia behängt wie mit schönen, exotischen Amuletten. Und verzückt hat man sich gegenseitig die melancholisch einfachen Sätze über die Liebe vorgelesen, die der schizophrene Dichter Alexander im Auftrag des guten Onkels Navratil niedergeschrieben hatte.“

Man hat sich „in dem Sog schöner Sätze von revolutionärem Pathos mitreißen lassen wollen“, aber das alles war bloß angelesen und nicht beglaubigt durch eigene Erfahrung oder selbständiges Denken. „Politisches Engagement und Irrationalismus haben sich in der antipsychiatrischen Bewegung zu Dummheiten verbündet. Sie verhindern alles. Sie verhindern das Wichtigste und das Schwierigste: daß Wirklichkeit wirklich wahrgenommen werden kann.“

Die elende Wirklichkeit der Psychiatrie paßt in keine theoretische Ordnung, die nur dem eigenen Wunsch nach Orientierung dient; sie fügt sich in kein Programm zur Weltverbesserung, das nur dem Bedürfnis zur Sinngebung der eigenen Existenz nachkommt. Der Irrsinn läßt sich nicht ästhetisch verklären, wenn man ihn als das erkennt, was er vor allem anderen ist: ein Zustand hoffnungsloser Verzweiflung. Und ebenso verfälschend ist die Verteuflung der Ärzte. Trotz aller heftigen Kritik an ihnen bringt der Roman für die Techniken und Rituale, mit denen sie den Druck des Leidens von sich abwehren und die eigene Hilflosigkeit überspielen, viel Verständnis auf.

Goetz nähert sich der Wirklichkeit, indem er erzählt, berichtet, dokumentiert. Und er vermittelt sie dem Leser aus den sehr unterschiedlichen Perspektiven der unmittelbar Betroffenen. Das wirkt in dem bruchstückhaften Neben- und Gegeneinander oft irritierend wirr, gewonnen ist damit aber eine dem Thema auch formal angemessene Wahrhaftigkeit.

Ganz ohne Metaphorisierungen kommt freilich auch dieser Roman nicht aus. Und vielleicht bleibt Literatur doch generell auf sie angewiesen. Der vieldeutige Titel „Irre“ steht nicht zuletzt auch als ein Bild für die existentielle Befindlichkeit des Autors und für die tiefen Risse in der von ihm wahrgenommenen Welt. Das schadet dem Buch keineswegs. Im Gegenteil: Erst durch solche Bedeutungserweiterungen wird es zu mehr als einem bloßen Bericht über die Situation der Psychiatrie in Deutschland, erst dadurch wird es dem eigenen Anspruch, ein Roman zu sein, wirklich gerecht.

Titelbild

Rainald Goetz: Irre. Roman.
13. Auflage.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986.
333 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3518377248
ISBN-13: 9783518377246

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Rainald Goetz: Irre. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1994.
331 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3518406159
ISBN-13: 9783518406151

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Titelbild

Rainald Goetz: Irre. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
340 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783518224281

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